EuGH: Besteht ein Anspruch auf Vollausgleich im Falle von allgemeinen Vorschriften?

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​veröffentlicht am 16. November 2022

 

Der EuGH traf am 08.09.2022 in der Rechtssache Lux Express Estonia AS (C 614/20 vom 08.09.2022) eine beachtliche Entscheidung zu allgemeinen Vorschriften und äußerte sich zu zwei zentralen Fragen: Hat ein Verkehrsunternehmen, das einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung unterworfen ist, grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch gegenüber der verpflichtenden Körperschaft? und wie ist im Rahmen von Höchsttarifen der Ausgleich zu bemessen?

 

Der estnische Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) hat dem EuGH u.a. die Frage zur Beantwortung vorgelegt, ob eine gesetzlichen Pflicht zur unentgeltlichen Beförderung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Schüler, Behinderte, etc.) ohne staatliche Ausgleichszahlungen gegen die Vorgaben der VO 1370/2007 verstößt und wie im Falle des Bejahens einer Ausgleichsverpflichtung  der Ausgleich aus einer allgemeinen Vorschrift zu bemessen sei, etwa „(…) ob der Gewinn aus dem Verkauf von Fahrkarten, der dem Beförderer aufgrund der Erfüllung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung entgangen ist, eine geeignete Grundlage für die Berechnung der Kosten für die Erfüllung dieser Verpflichtung darstellt(…)” (Rdnr. 84).

 

Zunächst stellt der EuGH fest, dass angesichts der Formulierung in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 VO 1370/2007 „gewährt die zuständige Behörde” für die Erbringung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung zwingend entsprechende Ausgleichszahlungen zu leisten sind. In welcher Höhe, wird nicht eindeutig vom EuGH beantwortet. In Rdnr. 71 wird u. a. geäußert, dass die zuständigen Behörden verpflichtet sind, eine Ausgleichsleistung für die Belastungen zu gewähren, die sich aus den gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen ergeben. Mit anderen Worten wird hier der Text der VO 1370/2007 a.a.O. referiert. Er führt dies weiter in Rdnr. 92 aus. Die Formulierung der o. a. Norm wird in der Literatur zum Teil als „Anspruch auf Vollkompensation” interpretiert. Wörtlich heißt es in der deutschen Fassung der VO 1370/2007 in Art. 3 Abs, 2 Satz 2: 
 
„(…) eine Ausgleichsleistung für die – positiven oder negativen – finanziellen Auswirkungen auf die Kosten und Einnahmen zu gewähren, die auf die Erfüllung der in einer allgemeinen Vorschrift festgelegten tariflichen Verpflichtung zurückzuführen sind; dabei vermeidet sie [die zuständige Behörde, R&P] eine übermäßige Ausgleichsleistung (…)”.

 

Zur Auslegung der Vorschrift finden im Urteil umfangreiche normhistorische Betrachtungen statt, die sich insbesondere mit den Vorgängerregelungen (Entscheidung 65/271/EWG), VO (EWG) Nr. 1191/69)auseinandersetzen. Regelungszweck war danach die Angleichung der Marktbedingungen. Zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes sollte nicht allein der verzerrende Effekt staatlicher Begünstigungen, sondern auch die unterschiedliche Struktur des Marktes vereinheitlicht werden, dies durch die Definition eines klaren Verhältnisses Leistung/Verpflichtung – Gegenleistung/Gegenverpflichtung. Die damit ausgedrückte wettbewerbsrechtliche Dimension dieser Vorschriften sei inkorporiert auch in der Nachfolge-VO 1370/2007 (Rdnr. 64).

 

Gegen die Annahme einer Verpflichtung zur Vollkompensation sprechen gewichtige Gründe:

 

  • Die bisherige Interpretation der VO 1370/2007 geht davon aus, dass die Regulierungsintention des Beihilfenrechts, lediglich eine Überzahlung (Überkompensation) verbiete, um eine Verzerrung der Märkte durch zu hohe Zahlungen vermeiden. Das Beihilfenrecht verfolge insoweit nicht die Intention, für eine angemessene Vergütung zu sorgen.
  • Ferner widerspräche es der Logik, dass eine „allgemeine” Regelung, welche für alle Unternehmen gelte so auszugestalten sei, dass dies letztlich zu einem „individuellen” Ausgleich führe und trotzdem die Anforderungen der „objektiven und transparenten Parametrierung” erfülle. Dieser Ansatz passe zu einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag, nicht aber zu einer allgemeinen Vorschrift.

 

Für die Annahme einer Verpflichtung zur Vollkompensation spricht, dass

  • eine Vereinheitlichung der Marktstrukturen in der Gemeinschaft denklogisch nur dann gelingen kann, wenn der finanzielle Ausgleich für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen für das Verkehrsunternehmen nicht willkürlich nach unten von den entstandenen Lasten abweichen kann und somit den Zugang eu-ausländischer Unternehmen im jeweiligen Markt unattraktiv und den Zugang nationaler Unternehmen im EU-Ausland finanziell über Gebühr erschwerlich macht. Der Ausgleich muss also den Lasten entsprechen.
  • die Regelungen der VO 1370/2007 eben nicht allein beihilfenrechtlichen sondern auch wettbewerbsrechtlichen Charakter haben. Man kann daher von Spezialbeihilfenrecht sprechen, dass neben einem Über- auch ein Unterkompensationsverbot beinhaltet, wenn es auch nicht expliziten textlichen Widerklang findet.

 

Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass der EuGH selbst an keiner Stelle von einer „Vollkompensation” spricht, sondern nur von der Verpflichtung zur Aufwendung entstandener Kosten. Die Herausforderung, eine entsprechende Bemessung dieses Ausgleichs zu finde, ohne den Charakter der Allgemeingültigkeit aufzugeben, bleibt. Der EuGH hat sich diesbezüglich zur Frage des entgangenen Gewinns als Bemessungsgrundlage nicht geäußert und die Prüfung der Begrenzung des Ausgleichs auf die „finanziellen Auswirkungen auf die Kosten und Einnahmen” an den nationale Gerichten zurückverwiesen. Insoweit gibt der EuGH (Rdnr. 91 f. ) lediglich den Wortlaut nach Ziffer 2 des Anhangs der VO 1370/2007 wieder.

 

Bewertung für die Praxis


Für die Rechtsanwendung stellt sich die Frage, ob die Formulierung des EuGH einer systemischen Interpretation noch zugänglich ist. Es ist nationalen Gerichten verwehrt, eine Interpretation unklarer EuGH-Entscheidungen vorzunehmen. Es steht zu befürchten, dass etwaigen Zweifeln nationaler Gerichte daher nur im Wege einer erneuten Vorlage zum EuGH geklärt werden können. Hinzuweisen ist auch darauf, dass der EuGH die Begrenzung auf den sogenannten „finanziellen Nettoeffekt” im Rahmen von allgemeinen Vorschriften betont. Das Abstellen auf den Nettoeffekt verlangt aber, die dem Unternehmen durch die gemeinwirtschaftlichen Vorteile (Höchsttarif) entstandenen Vorteile (z.B. höhere Nachfrage am Fahrgastmarkt) in Abzug zu bringen. Letztlich wäre eine rechnerische Vollkompensation der durch den Höchsttarif begründeten Nachteile, unter Abstellen allein auf den Ausfall der jeweiligen Fahrgeldeinnahmen, nicht konform mit den Vorgaben der VO 1370. Möglicherweise ist daher die Entscheidung dahingehend zu deuten, dass grundsätzlich die durch die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstandenen Nachteile vollständig auszugleichen sind. Jedoch müssen dann die durch die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen begründeten Vorteile, ebenfalls vollumfänglich, gegengerechnet werden. Im Ergebnis wäre dem Verkehrsunternehmen eine, entsprechend den Vorteilen gewährte Unterkompensation erstattungsfähig.

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