Zukunft der umsatzsteuerlichen Organschaft unter Beachtung der EuGH-Rechtsprechung

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veröffentlicht am 1. Juni 2023




Status Quo umsatzsteuerrechtliche Organschaft in Deutschland | bisherige Verwaltungsauffassung

Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 Umsatzsteuergesetz (UStG) ist stets der Organträger als der „einzige” Steuerpflichtige innerhalb des Organkreises anzusehen.

Eine Organschaft i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG liegt dann vor, wenn eine juristische Person nach dem „Gesamtbild” der tatsächlichen Verhältnisse (a) finanziell, (b) wirtschaftlich und (c) organisatorisch in ein Unternehmen eingegliedert ist (vgl. Abschnitt 2.8 Abs. 1 Umsatzsteuer-Anwendungserlass - UStAE).

Finanzielle Eingliederung

Unter der finanziellen Eingliederung ist nach bisheriger Auffassung der Anteilsmehrheitsbesitz an den jeweiligen Organgesellschaften als maßgeblich anzusehen (vgl. A 2.8 Abs. 5 S. 1 UStAE). Demnach ist die finanzielle Eingliederung als gegeben zu werten, sofern Beteiligungsverhältnisse von mehr als 50 Prozent vorliegen. Einschränkend hierzu wäre jedoch noch die mögliche Notwendigkeit einer höheren qualifizierenden Mehrheit und demzufolge das Vorliegen einer höheren (bestimmten) Beteiligungsquote. 
Für Zwecke von Personengesellschaften wurde eigens der A 2.8 Abs. 5a UStAE eingeführt. Die finanzielle Eingliederung einer GmbH & Co. KG setzt voraus, dass Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers (hier die Stadtwerke) finanziell eingegliedert sind, sodass die erforderliche Durchgriffsmöglichkeit selbst bei der stets möglichen Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips gewährleistet ist.

Wirtschaftliche Eingliederung

Unter der wirtschaftlichen Eingliederung wird subsumiert, dass die Organgesellschaft nach dem Willen des Organträgers im Rahmen des Gesamtunternehmens wirtschaftlich tätig ist, wohingegen die Beteiligungen an den jeweiligen Organgesellschaften dem unternehmerischen Bereich des Organträgers zugeordnet werden (vgl. A 2.8 Abs. 6 S. 1 u. 2 UStAE). Bei entsprechender Ausprägung der finanziellen und organisatorischen Eingliederung kann diese bereits vorliegen, sofern zwischen Organträger und Organgesellschaften aufgrund gegenseitiger Förderung und Ergänzung mehr als nur unerhebliche wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Auch eine Verflechtung innerhalb mehrerer Organgesellschaften kann eine wirtschaftliche Eingliederung begründen (vgl. A 2.8 Abs. 6 S. 3 u. 4 UStAE).

Organisatorische Eingliederung

Die organisatorische Eingliederung setzt gem. A 2.8 Abs. 7 S. 1 UStAE voraus, dass die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Möglichkeit der Beherrschung der Tochtergesellschaft durch die Muttergesellschaft in der laufenden Geschäftsführung wirklich wahrgenommen wird. Es kommt darauf an, dass der Organträger die Organgesellschaft durch die Art und Weise der Geschäftsführung beherrscht oder aber zumindest durch die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft sichergestellt ist, dass eine vom Willen des Organträgers abweichende Willensbildung bei der Organtochter nicht möglich ist (vgl. A 2.8 Abs. 7 S. 2 UStAE). Die organisatorische Eingliederung kann sich aus einer personellen Verflechtung über die Vertretungsorgane von Organträger und Organgesellschaft wie z. B. bei einer Personenidentität in den Leitungsgremien ergeben (vgl. A 2.8 Abs. 8 UStAE).

Eine gleichmäßige Ausprägung aller Voraussetzungen ist dabei nicht erforderlich. Die Ausprägung richtet sich – wie zuvor bereits erwähnt – nach dem Gesamtbild. Die bis dato vorliegende Rechtsprechung des BFHs hatte auf Ebene der finanziellen Eingliederung jedoch stets das Erfordernis der Stimmrechtsmehrheit im Blickwinkel und eben als Voraussetzung grundlegend angesehen.

Wirkung der Organschaft | Status Quo

Festlegung des „einzigen” Steuerpflichtigen

Sind die Voraussetzungen der Organschaft als gegeben anzusehen, so ist - wie einführend bereits erwähnt - festzustellen, dass der Organträger gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als einziger Steuerpflichtiger fungiert. Abzugrenzen hiervon ist jedoch noch die „gesamtschuldnerische” Haftung aller Organgesellschaften im Rahmen der Organschaft gem. § 73 AO, sodass die „Verdichtung” der Steuerpflicht auf den Organträger nicht die Haftung aller einzelnen Organgesellschaften einschränkt. 

Die Festlegung auf einen einzigen Steuerpflichtigen dient im Wesentlichen der (wirtschaftlichen) Vereinfachung hinsichtlich der Erfüllung der umsatzsteuerlichen Pflichten (u. a. Abgabe Umsatzsteuer-Voranmeldungen), da diese sich auf einen „Unternehmer” verlagern. 

Innenumsätze 

Im Rahmen einer Organschaft besteht nur ein Unternehmer (= Organträger) im Sinne des deutschen Umsatzsteuergesetzes. Dahingehend ist nach derzeitiger Auffassung eine steuerbare Leistung/Lieferung zwischen den im Organkreis tätigen Subjekten nicht möglich/denkbar. Es handelt sich demnach um nichtsteuerbare Innenumsätze. 

Änderungen der Voraussetzungen

Aktuelle „richtungsändernde” Rechtsprechung durch den BFH

Auf Grundlage zweier anhängiger Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) wurden dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sowohl vom V. als auch vom XI. Senat Vorlagen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Daraufhin hatte der EuGH am 1.12.2022 in zwei Urteilen (EuGH_C-141/20; EuGH_C-269/20) entschieden, dass die deutsche Rechtslage hinsichtlich der Festlegung eines einzigen Steuerpflichtigen sich als unionskonform erweist sowie die nationalen Vorschriften zur umsatzsteuerlichen Organschaft im Wesentlichen im Einklang mit dem EU-Recht stehen.

In seinem Urteil vom 18.1.2023 (XI R 29/22) hat der XI. Senat eine Umkehr der bisherigen Rechtsprechung hinsichtlich der Voraussetzungen der finanziellen Eingliederung vollzogen und hat die Auffassung des EuGHs dementsprechend bestätigt (vgl. EuGH-Urteil C-141/20).  Demnach ist ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft keine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Organschaft. Nach Ansicht des EuGHs kommt es für die Begründung einer umsatzsteuerlichen Organschaft nicht zwingend darauf an, dass der potenzielle Organträger die Stimmmehrheit an der potenziellen Organgesellschaft hält. Ausreichend soll in solchen Fällen sein, dass der potenzielle Organträger aber über eine Anteilsmehrheit verfügt und dann zusätzlich noch einen Geschäftsführer bestellt. Diese Erweiterung steht insofern auch in Einklang zu vorangegangen Entscheidungen des EuGHs, in denen er ausführte, dass eine umsatzsteuerliche Organschaft auch dann gegeben sein kann, wenn eines der Merkmale nicht erfüllt, aber dafür die beiden anderen Merkmale deutlich übererfüllt sind. In diesem Kontext ist unseres Erachtens auch die vorgenannte Entscheidung zu sehen. 

Nunmehr ist ein „Auseinanderdriften” zwischen Stimmrechtsmehrheit und kapitalmäßiger Beteiligung denkbar. An dieser Stelle ist jedoch noch anzumerken, dass der BFH sich lediglich auf die im Verfahren festgelegten Werte bezieht (50 Prozent Stimmrechte). Inwiefern das Urteil auf geringere Stimmrechte (49 Prozent) auszulegen ist, bleibt daher offen. Der vom EuGH vorgegebene Spielraum ist dahingehend als weiter auszulegen/zu interpretieren (vgl. auch nachfolgend).

Durch das Urteil des XI. Senats des BFH erfolgte nunmehr eine Abkehr in der bis dato getätigten Rechtsprechung, die vorab auch Zustimmung des V. Senats findet. War bisher die Mehrheit der Stimmrechte erforderlich, ist nunmehr auf die Durchsetzungsmöglichkeit des Willens des Organträgers auf die Organgesellschaft abzustellen, unter der Voraussetzung des Vorliegens von 50 Prozent der Stimmrechte. Die 50-prozentige Stimmrechtsvoraussetzung ist der Urteilsbegründung des BFHs zu entnehmen. Für die Praxis dürfte dieses Urteil hinsichtlich der finanziellen Eingliederung von geringfügiger Relevanz sein, da oftmals ein Gleichklang zwischen Stimmrechtsmehrheit und kapitalmäßiger Beteiligung besteht. 

Konsequenz der EuGH-Urteile vom 1.12.2022 und EuGH-Vorlage vom 26.1.2023 (V R 20/22) zu Innenleistungen/unentgeltlichen Wertabgaben

Aufgabe der „Nichtselbstständigkeit”?

Auf Basis der EuGH-Rechtsprechung hinsichtlich der Thematik von Innenumsätzen stellt sich nun die Frage, inwiefern es innerhalb des Organkreis es zu einem steuerbaren Leistungsaustausch kommen kann. Die Aussagen des EuGHs zielen trotz der Existenz einer Organschaft auf jeweils selbständige wirtschaftliche Einheiten ab und stehen entgegen den derzeitigen nationalen Vorschriften gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, in der zwischen den Mitgliedern der Organschaft erbrachte Leistungen in Ermangelung der Selbstständigkeit als nicht steuerbare Innenleistungen anzusehen sind. Diese bisherige Ausprägung ist oftmals der Grund der Bildung einer umsatzsteuerlichen Organschaft, vor allem dann, wenn innerhalb des Organkreises unterschiedliche Vorsteuerabzugsberechtigungen vorliegen und folglich eine Mehrbelastung durch die Organschaft vermieden werden soll.  

Eine Abkehr der bisherigen Regelung der nicht steuerbaren Innenumsätze hätte u. U. prekäre finanzielle Auswirkungen. 

Weiterhin ist festzuhalten, dass der BFH die Frage nach der Steuerbarkeit von Innenumsätzen nicht gestellt hatte. Die Frage zielte dahingehend vielmehr darauf ab, die fehlende Selbstständigkeit als Merkmal zur Begründung einer Organgesellschaft weiterhin heranzuziehen. Letzten Endes ist jedoch festzuhalten, dass der EuGH sich nicht von seinen früheren Rechtsprechungen abgrenzt und weiterhin die nach EuGH festgelegten Rechtsfolgen einer sog. „Mehrwertsteuergruppe” gelten, in der es nicht mehr getrennte Steuerpflichtige, sondern nur einen Steuerpflichtigen gibt.

Es ist daher abzuwarten, inwiefern der BFH die Urteile des EuGHs in die nationale Rechtsprechung umsetzen wird. 

Unentgeltliche Wertabgaben

Da bisher organschaftliche Innenleistungen als nicht steuerbare Innenleistungen nicht der Umsatzsteuer unterlagen, ist diese Praxis von hoher wirtschaftlicher Relevanz innerhalb von Organkreisen, deren Tätigkeiten zum Teil das Recht zum Vorsteuerabzug einschränken oder gar ganz ausschließen (u. a. hoheitlicher Bereich). Eine Umsatzbesteuerung aufgrund der Abkehr der Nichtselbständigkeit wie bereits unter vorweg beschrieben hätte in Höhe der nichtabziehbaren Vorsteuern eine Mehrbelastung zur Folge. 

Wie verhält es sich jedoch bei Leistungen, die vom Leistungsempfänger für nichtunternehmerische Tätigkeiten verwendet werden?  

Nach derzeitiger Auffassung der Finanzverwaltung ist der Kreis der Organschaft beschränkt auf den unternehmerischen Bereich, was einer unentgeltlichen Wertabgabe gem. § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG zur Folge hat. Der EuGH hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen. Gemäß EuGH ist ebenfalls der hoheitliche Bereich Bestandteil der Organschaft. Folglich wäre demnach der bisherige § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG hinsichtlich seines Anwendungsbereichs einzuschränken und ggf. lediglich auf unternehmensfremde Wertabgaben anzuwenden. 

Auch hier ist nunmehr abzuwarten, inwiefern der BFH die Äußerungen des EuGHs aufgreift und in zukünftiger Rechtsprechung umsetzten wird. 

Zwischenfazit:

Beide EuGH-Urteile haben die unionsrechtskonforme Ausgestaltung der nationalen Gesetzgebung im Wesentlichen bestätigt. Auch hatte die EuGH-Rechtsprechung bereits zu einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung des BFHs geführt, in der nunmehr nicht allein das Über-/Unterordnungsverhältnis als zwingend anzusehen ist. Insofern kann die finanzielle Eingliederung weitaus früher als unter derzeitiger Verwaltungsauffassung bejaht werden. 

Hinsichtlich der Aufgabe der Nichtselbständigkeit als auch hinsichtlich der Thematik der unentgeltlichen Wertabgaben kann festgehalten, werden, dass sich beide Punkte potenziell-materiell (vgl. Ziffer III.) auswirken können. Demnach wäre eine Abkehr der nichtsteuerbaren Innenumsätze sowie auch eine Erweiterung des Organkreises denkbar.  

EuGH-Vorlage vom 26.1.2023 „zweites Vorabentscheidungsersuchen”

Während das erste Vorabentscheidungsersuchen sich der Thematik der Konformität der nationalen Regelungen zur Organschaft mit dem Unionsrecht widmete und daraufhin der EuGH in den Urteilen vom 1.12.2022 Stellung bezog, bezieht sich der inhaltliche Kern des zweiten Vorabentscheidungsersuchens auf die Entgeltlichkeit und folglich Steuerbarkeit von Innenumsätzen eines Organkreises. In der Begründung bezieht sich der BFH auf das Erfordernis der Organschaft der sog. „Nichtgefahr von Steuerverlusten”. Der BFH begründet die Möglichkeit von Steuerverlusten in einer Vergleichsbetrachtung. Gemäß BFH bestünde die Gefahr von Steuerverlusten, sofern ein Leistungsempfänger des Innenumsatzes nicht zum Vorsteuerabzug (bzw. nicht zum vollen) berechtigt ist. Während es im Rahmen der Organschaft aufgrund der Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze zu keiner Entstehung eines Steueranspruchs kommt, entsteht hingegen bei Nichtbestehen einer Organschaft sowie keine Nichtsteuerbarkeit ein Steueranspruch, der zu keinem Vorsteuerabzug führt. 

Fazit

Es ist festzuhalten, dass sowohl aufgrund der EuGH-Entscheidungen als auch aufgrund der EuGH-Vorlage sich zwar weniger die Kriterien, jedoch vielmehr die materiellen Auswirkungen derzeitig als „Blackbox” darstellen. Während die finanzielle Eingliederung bereits höchstrichterlich aufgrund der BFH-Entscheidung vom 18.1.2023 als „früher” anzunehmen ist, sind von weit größerer Bedeutung daher noch die „offenen” Fragen der zukünftigen Ausrichtung hinsichtlich der steuerbaren Innenumsätze sowie auch die mögliche Ausdehnung des Organkreises auf nichtunternehmerische (hoheitlichen) Bereiche. Hierfür gibt es bis dato noch keine BFH-Rechtsprechung. Eine Steuerbarkeit von Innenumsätzen würde die derzeitige Konstellation der Organschaft in vielen Bereichen als obsolet darstellen. Ebenda ist abzuwarten, inwiefern der EuGH auf das zweite Vorabentscheidungsersuchen vom 26.1.2023 eingehen wird. Bleibt der EuGH seiner bisherigen Linie treu, so ist mit einem Fortbestehen als nichtsteuerbare Innenumsätze zu rechnen. Alles andere wäre eine 180-Grad-Drehnung der bisherigen EuGH-Vorschrift. 

Mit einer Gesetzesänderung wird derzeit nicht gerechnet, da die momentane gesetzliche Regelung mit EU-Recht vereinbar ist. Dennoch bestehen auf Ebene der Tatbestandsmerkmale als Voraussetzung einer umsatzsteuerlichen Organschaft derzeit erhebliche Rechtsunsicherheiten mit der Gefahr der Entstehung von durchschlagenden monetären und organisatorischen Konsequenzen.



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