Kartellrecht: Neue Risiken für die Transaktionssicherheit

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zuletzt aktualisiert am 22. Februar 2023 | Lesedauer ca. 4 Minuten

 

Unternehmenszusammenschlüsse stehen häufig unter dem Vorbehalt der kartellbe­hördlichen Fusionskontrollfreigabe. In den letzten Jahren kam es zudem vermehrt zu kartellbehördlichen Prüfungen von wettbewerblich relevanten Transaktionen, die unterhalb der gesetzlichen Schwellenwerte blieben und damit (eigentlich) keiner vorherigen Anmeldepflicht bei Kartellbehörden unterlagen. Diese Entwicklung kann negative Auswirkungen für die Transaktionssicherheit bei M&A-Projekten haben und sollte deshalb frühzeitig im M&A-Prozess berücksichtigt werden. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die kartellbehördliche Praxis.



Anmeldepflicht und Vollzugsverbot

In fast allen Rechtsordnungen existiert eine Pflicht, Unternehmenszusammenschlüsse vor ihrem Vollzug bei der zuständigen Kartellbehörde anzumelden. Flankiert wird diese Anmeldepflicht meist durch ein bußgeldbewehrtes Vollzugsverbot. Ob ein Zusammenschluss anmeldepflichtig ist oder nicht, hängt vor allem vom Vorliegen eines Zusammenschlusstatbestands sowie der Erreichung gesetzlicher Schwellenwerte ab.

 

Zusammenschlusstatbestand kann ein Vermögens- oder Kontrollerwerb sein, aber auch – so etwa in Deutschland – ein Anteilserwerb (25 %, 50 %) oder eine Verbindung, die „wettbewerblich erheblichen Einfluss” vermittelt. Die gesetzlich festgelegten Schwellenwerte beziehen sich in der Regel auf weltweite und/oder lokale Umsätze der Zusammenschlussparteien, teilweise auch auf Assets und/oder Marktanteile. In Deutschland wurde 2017 außerdem eine „Transaktionswertschwelle” eingeführt, die neben den Umsätzen auch auf den Wert der Transaktion abstellt.

 

Das Fusionskontrollrisiko ist regelmäßig gut beherrschbar. Aufgrund der potenziellen Bußgelder sollten die weltweiten Anmeldepflichten aber stets geprüft werden. Die Fusionskontrollanmeldungen können bei guter Planung so in den M&A-Prozess integriert werden, dass sie nicht oder kaum zu Verzögerungen führen. Untersagungen von Zusammenschlüssen bilden immer noch die Ausnahme.


Auslöser: Killer Acquisitions

In den letzten Jahren haben insbesondere in der Tech-Branche marktstarke Unternehmen gezielt aufstrebende Wettbewerber aufgekauft, um künftigen Wettbewerb zu vermeiden (sog. „Killer Acquisitions”). Die jeweiligen Zielgesellschaften waren zwar im Markt schon präsent, erreichten aber die Schwellenwerte (noch) nicht. Die Transaktionen unterlagen somit nicht der Fusionskontrolle. Derartige Konstellationen wollen Gesetzgeber und Kartellbehörden mit verschiedenen Maßnahmen vermeiden, namentlich über Verweisungen, Kartellverfahren wegen Missbrauch von Marktmacht und neuen gesetzlichen Regelungen.


Zuständigkeitsbegründung durch Verweisung

Eine Möglichkeit für Kartellbehörden, eigentlich fusionskontrollfreie Vorhaben einer Prüfung zu unterziehen, ist die Nutzung der Verweisungsnorm des Art. 22 Fusionskontrollverordnung (FKVO). Danach kann die EU-Kommission einen Zusammenschluss prüfen, wenn dieser den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb in einem Mitgliedstaat erheblich zu beeinträchtigen droht. Voraussetzung ist lediglich, dass der betroffene Mitgliedstaat einen fristgebundenen Antrag auf Verweisung an die EU-Kommission stellt. Nach Ansicht der EU-Kommission ist dabei nicht erforderlich, dass die Anmeldeschwellen der EU-Kommission oder in irgendeinem Mitgliedstaat erfüllt sind. Mit anderen Worten: Eigentlich fusionskontrollfreie Vorhaben können allein durch den Antrag eines Mitgliedstaats auf Verweisung fusionskontrollpflichtig werden. Das EuG hat diese Rechtsauffassung bestätigt (Urt. v. 13.07.2022, T-227/21 – Illumina; Rechtsmittel anhängig).

 

Früher handhabte die EU-Kommission derartige Verweisungen sehr restriktiv. 2021 kündigte sie jedoch in einem „Guidance Paper” zu Art. 22 FKVO an, dass sie den Mechanismus der Verweisung künftig häufiger nutzen will. Sie hat hierbei besonders die Digitalkonzerne und den Pharmasektor im Fokus, aber auch andere Unternehmen mit Zugang zu oder Einfluss auf wettbewerbsrelevante(n) Vermögenswerte(n) wie Rohstoffe, geistige Eigentumsrechte, Daten oder Infrastruktur. Letztlich kann der Mechanismus aber branchenunabhängig angewendet werden.

 

Diese Behördenpraxis kann zu erheblichen Risiken für die Transaktionssicherheit führen. Insbesondere will die EU-Kommission derartige Verweisungen bis sechs Monate nach Vollzug der Transaktion, bei späterer Kenntnisnahme noch später, zulassen. Unternehmen müssten also viele Monate nach Vollzug noch mit einem nachträglichen EU-Fusionskontrollverfahren rechnen.


Unternehmenserwerb als Missbrauch marktbeherrschender Stellung

In einem anderen aktuellen Verfahren sind EU-Kommission, EuG und die Generalanwältin vor dem EuGH davon ausgegangen, dass der Erwerb eines anderen Unternehmens durch ein marktbeherrschendes Unternehmen einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV darstellen kann (Schlussanträge GAin Kokott v. 13.10.2022, C 449/21 – Towercast). Diesen Missbrauch kann eine Kartellbehörde repressiv verfolgen, wenn die Schwellenwerte für die Fusionskontrolle nicht erreicht wurden und es deshalb kein Fusionskontrollverfahren gegeben hat. Das bedeutet, dass marktbeherrschende Erwerber Monate und Jahre nach Vollzug eines Zukaufs noch mit einer kartellbehördlichen Prüfung der Transaktion konfrontiert sein können.

 

Zu befürchten hat der Erwerber der Generalanwältin zufolge immerhin „in der Regel” keine nachträgliche Rückabwicklung, sondern „nur” die Verhängung einer Geldbuße. Daneben kommen verhaltensorientierte Abhilfemaßnahmen in Betracht, wie z.B. Zugang zu Infrastrukturen, Lieferverpflichtungen und Lizenzerteilungen. Marktstarke Unternehmen sollten derartige Risiken bei geplanten Zukäufen berücksichtigen.


Anmeldepflicht per Verfügung

Auch die Gesetzgeber haben auf die Entwicklungen reagiert. Seit 2021 hat das Bundeskartellamt nach § 39a GWB die Möglichkeit, ein Unternehmen durch Verfügung für einen längeren Zeitraum zu verpflichten, jeden Zusammenschluss in einem bestimmten Wirtschaftszweig anzumelden. Voraussetzung hierfür ist insbesondere, dass zuvor eine Sektoruntersuchung in dem Wirtschaftszweig stattgefunden hat, das Unternehmen weltweit mehr als EUR 500 Mio. Umsatzerlöse erzielt hat und einen Marktanteil von mindestens 15 % erreicht. Die Zielgesellschaft muss mehr als EUR 2 Mio. Umsatzerlöse erzielt haben, davon mehr als zwei Drittel in Deutschland. Aktuell ist die praktische Relevanz des § 39a GWB noch gering. Es ist aber schon eine 11. GWB-Novelle in Vorbereitung, durch die die Anforderungen für die erweiterten Fusionskontrollpflichten nach einer Sektoruntersuchung erheblich abgesenkt werden sollen. Unternehmen aus Bereichen, bei denen es eine Sektoruntersuchung gegeben hat, könnte der Erwerb kleinerer Wettbewerber künftig erschwert werden.


Fazit: Risiken für Transaktionssicherheit

Die kartellbehördlichen Eingriffsbefugnisse auch außerhalb der „klassischen” Fusionskontrolle können zu erheblichen Risiken für die Transaktionssicherheit führen. Das kartellrechtliche Prüfprogramm bei M&A-Transaktionen sollte neben der „klassischen” Fusionskontrolle die skizzierten Entwicklungen berücksichtigen. Speziell bei wettbewerblich potenziell kritischen Transaktionen sollte frühzeitig zusätzlich analysiert werden, ob eine Verweisung über Art. 22 FKVO zu befürchten ist oder durch den Zusammenschluss das Risiko eines Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung besteht. Die entstehenden Risiken sollten künftig entsprechend vertraglich abgebildet werden, es sei denn, der EuGH setzt den Kartellbehörden in den beiden skizzierten Fällen noch Grenzen.

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