Umsetzung der EU-Richtlinien Mari & Picasso – Auswirkungen auf den deutschen Regelenergiemarkt

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​​veröffentlicht am 17. Februar 2022, zuletzt aktualisiert am 1. März 2022

 

 

 

Die Energiewende in Deutschland ist eine der derzeit größten klimapolitischen Herausforderungen, in der wir uns durch die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft befinden. Die Auswirkungen des Wegfalls von grundlastfähigen Kohle- und Atomkraftwerken auf die Strompreise und Versorgungssicherheit werden nahezu täglich thematisiert und stellen das bisherige deutsche Marktdesign des „Energy-only-Markts” immer stärker zur Disposition, da an dessen Lenkungswirkung ausreichender Investitionsvolumina in versorgungssichernde Kraftwerke angezweifelt wird.

 

 

Aufgefangen wird der Wegfall der installierten Leistung der großen Kraftwerke teilweise durch die zeitgleich stattfindende „Demokratisierung” des Marktes für Energieerzeuger, insbesondere durch erneuerbare Energieerzeuger. Sowohl im gewerblichen Großanlagenbau als auch im Privatbereich durch kleinere PV-Anlagen wurden in den letzten Jahren große Erzeugungsleistungen zugebaut. Dies hat dazu geführt, dass der Anteil an volatilen Stromerzeugern wie Windkraft- und Photovoltaikanlagen und als Reaktion darauf auch der Bedarf an Regelenergie stark zugenommen hat. Die nun zu beobachtende vermehrte Installation von Groß- und Heimbatteriespeichern dient schon heute der Stabilisierung des Stromnetzes. Entgegen vieler kritischer Stimmen verharrt die tatsächliche Versorgungssicherheit in Deutschland weiterhin auf einem sehr hohen Niveau.

 

Auf wirtschaftlicher Ebene ist davon auszugehen, dass die steigende Volatilität der Stromerzeugung auch die Marktpreise stärker als bisher zwischen Höchst- und Tiefstpreisen schwanken wird.

 

Abbildung 1 veranschaulicht die Ergebnisse einer Studie, welche Auswirkungen die steigende Durchdringung von Erneuerbaren Energien im Strommix auf die zukünftige Volatilität des Strompreises haben könnte, indem sie die Jahresstundenzahl sog. Extrempreise in der EU pro Land und Jahr schätzt.

 

Abbildung 1: Anzahl positiver/negativer Extrempreise pro Jahr im EU-Durchschnitt. Quelle: Eigene Darstellung, nach Energy Brainp

 

Abbildung 1: Anzahl positiver/negativer Extrempreise pro Jahr im EU-Durchschnitt. Quelle: Eigene Darstellung, nach Energy Brainpool.

 

Steigende Volatilität der Versorgung, aber sehr geringe Ausfallzeiten – wie passt das zusammen?

Grund für die seit Jahren sehr geringen Versorgungsunterbrechungen sind die von den Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) ausgeführten Systemdienstleistungen, welche die hohe Zuverlässigkeit und Sicherheit bei der Stromübertragung und -verteilung in dem bestehenden Maße gewährleisten. Neben Maßnahmen des Engpassmanagements, die die Angebots- und Nachfragefindung der Großhandelsbörse EEX mit den technischen Limitationen des Netzes am Vortag der Leistungserbringung in Einklang bringen, sind dies insbesondere Maßnahmen zur Frequenzerhaltung, um die Stromerzeugung und -verbrauch zu jedem Zeitpunkt exakt im Gleichgewicht zu halten. Falls aufgrund von Fahrplanabweichungen die Nachfrage zu einem bestimmten Zeitpunkt größer ist als das Angebot, muss der ÜNB positive Regelenergie einsetzen und somit mehr Strom ins Netz durch eine zusätzliche Erzeugung einspeisen oder die Nachfrage drosseln. Im umgekehrten Fall, bei erhöhtem Angebot und einer zu geringen Nachfrage muss die Last aus dem Netz erhöht werden oder Erzeugungsanlagen vom Netz abgekoppelt werden – man spricht von negativer Regelenergie. Die Bereitstellung der unterschiedlichen Arten der Regelenergie werden über drei verschiedene Regelenergiemärkte abgewickelt, welche sich im Laufe dieses Jahres durch die Europäische Regelenergierichtlinie (Electricity Balancing Guideline) ändern werden.

 

Aufbau des deutschen Regelenergiemarkts und Kosten des bisherigen Designs

Unterschieden wird der Regelenergiemarkt in Deutschland in unterschiedliche Leistungsarten, wie die nachfolgende Tabelle näher beschreibt.

 

 

Tabelle 1: Verschiedene Regelenergiearten und ihre Eigenschaften

 

   Tabelle 1: Verschiedene Regelenergiearten und ihre Eigenschaften

 

 

Die reaktionsschnellste aller Regelarten ist die Primärregelleistung PRL (eng.: Frequency Containment Reserve, FCR), die frequenzgesteuert und automatisch am Ort der Anlage aktiviert wird, um diese hoch- oder herunter zu regeln. Die benötigte PRL wird seit dem 01. Juli 2020 alle vier Stunden auktioniert, die benötigte Menge europaweit vom Verbund der zentraleuropäischen ÜNB (ENTSOE-E) jährlich bestimmt. Die PRL muss innerhalb von 30 Sekunden vollumfänglich zur Verfügung stehen, die Anlage darf somit keinem zeitintensiven Hoch- oder Herunterfahrprozess unterliegen. Wichtig ist weiterhin, dass der Anbieter der PRL gleichzeitig positive sowie negative Leistung anbieten muss. Durch die schnelle Verfügbarkeit und den automatischen Abruf der PRL ist diese technisch am anspruchsvollsten, allerdings für Anlagenbetreiber ebenfalls am lukrativsten. Besonders geeignete Anlagen sind BHKWs (von Biogasanlagen), ebenso wie Batteriespeicher und Power-to-Gas-Anlagen. Zu erzielende Erlöse bei der PRL sind bedeutsam und liegen derzeit zwischen 154€/MW/Tag (am 15.01.2022) und 647€/MW/Tag (am 09.01.2022).

 

Wie Tabelle 1 zeigt, decken die Sekundärregelleistung SRL (eng.: automatic Frequency Restoration Reserve, aFRR) und die Minuten- oder Tertiärregelleistung MRL (eng.: manual Frequency Restoration Reserve, mFRR) eine spätere Zeitspanne der Leistungsbereitstellung ab. Während die SRL die PRL automatisch ablöst, löst die MRL nur bei einem länger anhaltenden Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch die vorangegangene Regelenergie ab und wird manuell vom Regelzonenverantwortlichen ÜNB zugeschaltet. Grund für die schrittweise Abfolge sind die geringeren Kosten der MRL, welche auf der anderen Seite durch lange Verzögerungen bei der Veränderung der Last gekennzeichnet sind.

 

Auf dem Primärregelleistungsmarkt werden alle Gebote bis zum Erreichen der von der ENTSOE-E ausgeschriebenen Menge benötigter Regelleistung bezuschlagt. Die Anbieter dieser Gebote erhalten den von ihnen veranschlagten Leistungspreis, da sich das Verhältnis von positiver und negativer PRL im Mittel ausgleicht, erhalten sie keinen zusätzlichen Arbeitspreis, anders als die Anbieter von SLR und MLR, deren Auktionen im Übrigen täglich erfolgen.

 

Dieses komplexe System weist dementsprechend auch hohe Kosten auf, obwohl diese durch eine bessere Integration der Erneuerbaren Energien und die fortschreitende Digitalisierung und Liberalisierung in den letzten Jahren abnahmen. Dabei fallen Jahre wie das Jahr 2019 aus der Reihe, weil hier durch notwendig kurzfristige regulatorische Eingriffe die Marktpreise gestiegen sind.

 

Kosten der Vorhaltung der verschiedenen Regelenergiearten 2015-2020

 

Abbildung 2: Kosten der Vorhaltung der verschiedenen Regelenergiearten, von 2015-2020. Quelle: Monitoringberichte der Bundesnetzagentur.

 

 

Darüber hinaus variiert auch der durchschnittliche mengengewichtete Ausgleichpreis, den der Regelreserveanbieter im Falle des Abrufs erhält, vergleichsweise stark. Insbesondere bei Abbildung 3 ist kein Trend auszumachen, sondern der Ausgleichspreis verharrt auf einem hohen Niveau.

 

Abbildung 3: Durchschnittlicher mengengewichteter Ausgleichspreis, von 2015-2020. Quelle: Monitoringbericht der Bundesnetzagentu

 

Abbildung 3: Durchschnittlicher mengengewichteter Ausgleichspreis, von 2015-2020. Quelle: Monitoringbericht der Bundesnetzagentur (2021).

 

Die Europäische Regelenergierichtlinie und ihre Auswirkungen auf den deutschen Regelenergiemarkt

Obwohl die Electricity Balancing Guideline bereits im November 2017 verabschiedet wurde, ist sie weiterhin sehr aktuell, da ihre Zeithorizonte bewusst weit gesteckt sind – schließlich geht es um nicht weniger als die Harmonisierung essenzieller Bestandteile der Energierichtlinien der kontinental-europäischen EU-Mitgliedsstaaten, wofür sich alle europäischen ÜNB und deren nationale Regulierungsbehörden auf gemeinsame Protokolle und Regeln, schlicht eine gemeinsame „energiewirtschaftliche Sprache”, einigen müssen. Langfristiges Ziel ist die sichere Versorgung der europäischen Bürger und Unternehmen mit sauberer, bezahlbarer Energie, wofür ein zusammenhängendes europaweites Netz mit gleichen Regeln und Pflichten für alle wichtigster Bestandteil ist. Nun wurde bekannt, dass sich die Europäische Kommission hierfür grob an der oben beschriebenen Klassifizierung von FCR, aFRR und mFRR orientiert, um die grenzüberschreitende Beschaffung von Regelenergie zu ermöglichen.

 

Die Richtlinie sieht nun vor, dass bis zum 24. Juli diesen Jahres weitere Schritte zu unternehmen sind. Zu diesem Stichtag sollen die europäischen digitalen Plattformen „Picasso” (Platform for the International Coordination of Automated Frequency Restoration and Stable System Operation”) und „Mari” (Manually Activated Reserves Initiative) an den Start gehen, auf denen zukünftig die Regelenergieleistungen grenzüberschreitend gemeinsam auktioniert, verrechnet und überwacht werden sollen. Obwohl manche nationalen ÜNB sich voraussichtlich erst später anschließen werden, wird dies für die vier deutschen ÜNB nicht gelten. Während „Picasso” die Angebote der SRL umfasst, wird „Mari” dasselbe für die MRL übernehmen. Ab diesem Sommer wird somit schließlich für alle drei Arten der Regelenergie eine gemeinsame, europäische Plattform existieren, die dem Ziel der EU zuträgt, einen paneuropäischen Energiebinnenmarkt zu schaffen. Mit dieser Erweiterung verlagert sich die Verantwortung, aber auch die Gestaltungsmacht für die Regelenergiemärkte von den nationalen ÜNB und Regulierungsbehörden zu ihren europäischen Pendants, der ENTSOE-E und der europäischen Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER).

 

Da die endgültigen Marktregeln und weitere Einzelheiten noch erarbeitet werden, ist die Abschätzung der Auswirkungen auf den deutschen Markt nur vorläufig möglich. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich durch die starke Zusammenarbeit der vier deutschen ÜNB mit ihren europäischen Partnern in den letzten Jahren die Regeln an den hier bekannten Grundsätzen, die ebenfalls in ähnlicher Form in Westeuropa genutzt werden, orientieren. Mit dem Startschuss der Plattformen wird freilich noch kein voll entwickelter, gemeinsamer Regelenergiemarkt entstanden sein. Er legt aber einen wichtigen Grundstein für diesen, wodurch die Systemdienstleistungen zur Netzstabilität – zumindest so der Plan – zukünftig preiswerter durchgeführt werden können. Insbesondere werden Kostensenkungen erwartet, da gegenläufige Regelenergiemaßnahmen in zwei derzeit noch getrennten Marktgebieten obsolet werden.

 

Zugleich wird sich durch die gemeinsame europäische Ausschreibung letztendlich sowohl die Zahl der Anbieter als auch das Marktgebiet enorm erhöhen, wenngleich natürlich durch die begrenzten Übertragungskapazitäten auch der internationale Handel nur beschränkt möglich ist. Es wird interessant zu sehen sein, bei welchem Niveau sich der zukünftige markträumende Preis einpendeln wird.

 

Durch die im Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt deutlich steigende Nachfrage an Regelenergie kann der Markt für viele Anbieter von Erzeugungsanlagen ein lukrativer Markt entstehen. Dies ist interessant für Akteure, welche Zugriff auf Anlagen haben, welche für die Regelleistungsbereitstellung prädestiniert sind – z.B. Betreiber von

  • Batteriespeichern,
  • Betreiber von Power-to-Gas Anlagen,
  • Wärmenetzen mit größeren elektrischen Wärmeerzeugern (E-Kessel, Wärmepumpen) oder Blockheizkraftwerken welche idealerweise mit einem Speicher gekoppelt sind.

 

Obwohl die Regelenergierichtlinie nur ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einem paneuropäischen Energiemarkt ist und noch viel Arbeit vor allen Beteiligten liegt, bereitet sie Europas Energieversorgung auf eine Zukunft vor, in der die Erneuerbaren Energien das Rückgrat bilden. Der zweifellos ansteigende Bedarf an Regelleistung bietet dabei für viele Akteure im Energiemarkt Potenziale zur Wertschöpfung bzw. gebietet Notwendigkeit zum Handeln, wenn selbst große Mengen an Regelleistung (z.B. bei E-Ladesäulen) benötigt wird. Dabei ist das Problem oft Teil der Lösung wenn die Flexibilität bzw. Speicher von Beginn an mitgedacht werden (z.B. bei bidirektionalem Laden, bzw. multivalenten Wärmenetzen).

 

Sicher ist, dass in Zeiten von hohen Strommarkt- und Regelenergiepreisen die Kombination aus günstigen, volatilen regenerativen Erzeugungsanlagen in Kombination mit flexiblen Lasten / Erzeugern bzw. Speichern ein attraktiver Weg zu langfristig stabilen Energiekosten ist. Trotz der zunehmenden Komplexität ganzheitlicher erneuerbarer Energieversorgungskonzepte zeigt sich aus der Erfahrung, dass es sich lohnt, besser jetzt als später damit zu beginnen.

 

Gerade in beispielsweise mittelständischen Industrieunternehmen muss die Erkenntnis wachsen, dass sie Teil der Energiewende sind – das bedeutet einerseits, in dezentrale Erzeugung zu investieren, aber idealerweise immer auch den Regelbedarf mitzudenken und ggfs. zur Refinanzierung die Speicher an den Markt zu bringen.

 

 

 

 

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Michael Rogoll

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