Tarifeinheitsgesetz – Chancen und Risiken für Unternehmen

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Am 22. Mai 2015 hat der Bundestag den Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Tarifeinheit angenommen. Das von Beginn an kontrovers diskutierte Gesetz soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Auflösung von Tarifkollisionen schützen. Künftig soll daher bei sich überschneidenden, mithin konkurrierenden Tarifverträgen im Betrieb derjenige Vorrang haben, an den die meisten Gewerkschaftsmitglieder gebunden sind.
 
 
 
 

Der „Betrieb” als Bezugspunkt

Die Kernregelung des Tarifeinheitsgesetzes findet sich in § 4a Abs. 2 S. 2 TVG, der für den Fall kollidierender Tarifverträge festlegt, dass im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft anwendbar sind.
 
Die Bezugnahme auf den „Betrieb” als organisatorische Einheit ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Insbesondere geht diese Regelung an der wirtschaftlichen Realität vorbei, da i.d.R. nicht der Betrieb, sondern das Unternehmen oder sogar der Konzern die entscheidende wirtschaftliche Größe ist. In zahlreichen Unternehmen oder Konzernen, in deren Betrieben es unterschiedliche Mehrheiten der Gewerkschaftsmitglieder gibt, wird dadurch eine unternehmenseinheitliche Tarif- und Personalpolitik deutlich erschwert. Anders als vom Tarifeinheitsgesetz angestrebt, wird es gerade nicht zu einer einheitlichen Tarifanwendung im Unternehmen oder Konzern kommen.
 
Für Arbeitgeber bietet die Regelung des § 4a Abs. 2 S. 2 TVG jedoch auch Chancen. Ist es doch nunmehr möglich, über kluge organisatorische Entscheidungen Einfluss auf die betrieblichen Strukturen zu nehmen. Veränderte betriebliche Strukturen können dann wiederum Einfluss auf die gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse im jeweiligen Betrieb haben.
 
Ebenso erlaubt es § 4a Abs. 2 S. 4 TVG, Arbeitgeber und Gewerkschaft mittels Tarifvertrag auf die Betriebsstruktur Einfluss zu nehmen. Mittelbar kann auf diese Weise auch die Betriebsratsstruktur beeinflusst werden. Für viele Arbeitgeber stellt dies eine interessante tarifvertragliche Gestaltungsoption dar.
 

Feststellung der Mehrheitsverhältnisse im Betrieb durch den Notar

Weitere Praxisprobleme wirft der diffuse Begriff „in einem Arbeitsverhältnis stehende Mitglieder” in § 4a Abs. 2 S. 2 TVG auf. Als besonders kritikwürdig ist herauszustellen, dass das Gesetz – anders als z.B. die Rechtsprechung bei einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) in Arbeitgeberverbänden – in keinster Weise nach der Qualität der Gewerkschafts-Mitgliedschaft differenziert: Ehrenmitglieder, „Karteileichen”, außertariflich Beschäftigte. Auch diese gelten als Vollmitglieder i.S.d. Tarifeinheitsgesetzes.
 
Was bedeutet dies in Konsequenz für die Arbeitgeber? Es ist in Zukunft verstärkt mit Forderungen nach Gewerkschafter-Boni bei Tarifverhandlungen zu rechnen. Ein „Kampfinstrument”, das die Gewerkschaften in jüngster Zeit wiederentdeckt haben, um im verschärften Wettbewerb um Mitglieder punkten zu können.
 
Ein weiteres Folgeproblem des § 4a Abs. 2 S. 2 TVG ergibt sich mit Blick auf die Feststellung der gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb. Hier greift man auf die sog. „Notariatslösung” zurück, d.h. der Notar erstellt eine notarielle Bescheinigung über die Zahl der in einem Betrieb vorhandenen Mitglieder einer Gewerkschaft, die in einem Arbeitsverhältnis zum Betrieb stehen.
 
In der Praxis bedeutet dies, dass die Notare künftig nicht nur den relevanten Betrieb bestimmen, mithin eine der komplexesten Fragestellungen des Arbeitsrechts überhaupt, sondern auch das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses beurteilen müssen. Notare werden sich daher in Zukunft verstärkt mit den Feinheiten der Scheinselbstständigkeit, Praktikantenverhältnisse und Leiharbeit auseinandersetzen müssen. Ein System zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse also, das insgesamt als wenig durchdacht und zudem als manipulationsgefährdet anzusehen ist.
 

Gefährdung des Streikrechts der Minderheitengewerkschaften

Insbesondere die verfassungsrechtlich verbürgten Rechte der Minderheitengewerkschaften (Art. 9 Abs. 3 GG) scheinen durch das Tarifeinheitsgesetz gefährdet. Für Berufs- und Spartengewerkschaften, wie die Lokführergewerkschaft GDL oder die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, bedeutet das Tarifeinheitsgesetz Folgendes: Mag die von dieser Minderheitengewerkschaft vertretene Berufsgruppe, z.B. Ärzte oder Lokführer, auch einen extrem hohen Organisationsgrad aufweisen, nützt dies der Minderheitengewerkschaft jedoch nichts, wenn es im Betrieb dennoch eine weitere Gewerkschaft mit einer höheren Anzahl an Mitgliedern gibt. Die Frage nach der Mehr- oder Minderheitsgewerkschaft im Betrieb wird zur Existenzfrage. Dies wird – die Streikaufrufe der GDL in den vergangenen Monaten als unheilvoller Vorbote – in Zukunft zu vermehrten Rivalitäten der Gewerkschaften um Tarifzuständigkeiten führen.
 

Mögliche Auswirkungen auf den Arbeitskampf

Kaum eine arbeitsrechtliche Frage wurde jüngst von einer so breiten Öffentlichkeit diskutiert, wie die Frage der Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf „Dauerarbeitskämpfe” (wie zuletzt in zahlreichen Bereichen der Daseinsvorsorge praktiziert).
 
Das Tarifeinheitsgesetz regelt selbst mögliche Auswirkungen auf den Arbeitskampf expressis verbis gar nicht. Mittelbar ergeben sich jedoch durch das Gesetz Auswirkungen: Ein Arbeitskampf ist nur dann verhältnismäßig, wenn der geforderte Tarifvertrag praktische Auswirkungen sowie einen Anwendungsbereich hat. Oder mit anderen Worten: Ein Arbeitskampf einer Minderheitengewerkschaft um einen Tarifvertrag, der aufgrund § 4a Abs. 2 S. 2 TVG nicht zur Anwendung kommen wird, wäre „sinnlos” und daher unverhältnismäßig.
 
Dies wird dazu führen, dass Mehrheitsgewerkschaften mit besonders ambitionierten Tarifverhandlungen und spektakulären Arbeitskämpfen um weitere Mitglieder werben werden, um so ihre Vormachtstellung zu behalten. Für Arbeitgeber bietet sich aber nunmehr die Chance, bei Streiks vor den Arbeitsgerichten eine Untersagung des Streiks wegen Unverhältnismäßigkeit anzustrengen, da die streikaufrufende Gewerkschaft in der Minderheit sei und daher das angestrebte Streikziel sowieso nicht zur Anwendung komme. Die Gewerkschaft müsste dann im gerichtlichen Verfahren ihren Mitgliederbestand offenlegen, um ihre vermeintliche Mehrheit darzulegen.
 

Ausblick

In Karlsruhe sind bereits 5 Verfassungsbeschwerden kleinerer Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz eingegangen, darunter die GDL und der Marburger Bund, die sich in ihrem Streikrecht eingeschränkt sehen. Zeitgleich erhoben einige Beschwerdeführer Antrag auf einstweilige Anordnung, um eine Anwendung des Gesetzes bis zu einer Entscheidung in den Verfahren zu unterbinden.
 
Im Übrigen sind die Auswirkungen auf die Praxis noch schwer abschätzbar. Viel spricht dafür, dass der Kampf um neue Gewerkschaftsmitglieder durch überhöhte Forderungen und überzogene Arbeitskämpfe zunehmen wird.
 
zuletzt aktualisiert am 23.09.2015

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Dr. Christoph Kurzböck, LL.M. (Lyon)

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht

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