EuGH: Neues zum Thema Massenentlassungsanzeige und Kündigungsschutzgesetz

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​Regelmäßig gehen mit unternehmerischen Veränderungen Entlassungen von Arbeitnehmern einher. Sobald ein Arbeitgeber jedoch eine größere Anzahl von Arbeitnehmern entlassen möchte, muss er die Anforderungen einer Massenentlassung nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) beachten. Abhängig von der Größe des Betriebs muss der Arbeitgeber zunächst den Betriebsrat unterrichten und die geplanten Entlassungen der Bundesagentur für Arbeit anzeigen. Ob der Arbeitgeber das Verfahren nach § 17 KSchG durchführen muss, richtet sich maßgeblich nach der Frage der i.d.R. im Betrieb beschäftigten Anzahl von Arbeitnehmern. Wer hierbei als Arbeitnehmer zählt, wurde bislang ausschließlich nach dem deutschen Arbeitnehmerbegriff bestimmt.
 

Arbeitnehmerbegriff im Rahmen des § 17 KSchG

Die Vorschrift des § 17 KSchG beruht, wie inzwischen viele Vorschriften im deutschen Arbeitsrecht, auf der sog. Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen). Seit einem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2010 war stets zu prüfen, ob nach der jeweiligen EU-Richtlinie der nationale (deutsche) oder stattdessen der sog. unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff maßgeblich ist. Diese Weichenstellung war für den deutschen Fremdgeschäftsführer von großer Bedeutung.
 
Arbeitnehmer nach deutschem Arbeitnehmerbegriff ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Nach diesem Begriff war ein Geschäftsführer nicht mitzuzählen. Dies wird durch § 17 Abs. 5 Nr. 1 KSchG sogar ausdrücklich klargestellt.
 
Bislang ging die überwiegende Auffassung davon aus, dass die Massenentlassungsrichtlinie keinen europäischen Arbeitnehmerbegriff vorgibt und demnach auf § 17 KSchG der nationale deutsche Arbeitnehmerbegriff Anwendung findet.
 

Die Entscheidung des EuGH

Diesem Verständnis hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun eine Absage erteilt und damit die bisherige deutsche Rechtsprechung vollkommen auf den Kopf gestellt. Vorausgehend war ein Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts aus dem niedersächsischen Verden. Im dortigen Verfahren kam es für das Erreichen der Schwellenwerte des § 17 KSchG entscheidend darauf an, ob zum einen ein Fremdgeschäftsführer (erste Vorlagefrage) und zum anderen eine sich in einer Umschulungsmaßnahme befindliche Bürokauffrau (zweite Vorlagefrage; die damit verbundenen Rechtsfragen können hier nicht weiter vertieft werden) im Rahmen der Schwellenwerte mit zu berücksichtigen sind.
 
Beim Urteil in der Rechtssache Balkaya vom 9. Juli 2015 (EuGH, vom 09. Juli 2015 – Az: C 229/14 – Balkaya ./. Kiesel Abbruch- und Recycling Technik) entschied der EuGH, dass einer Massenentlassung im Rahmen von § 17 KSchG der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde zu legen ist. Nach diesem Verständnis ist Arbeitnehmer, wer während einer bestimmten Zeit für eine andere Person nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zudem muss ein Unterordnungsverhältnis bestehen, was im Einzelfall anhand sämtlicher die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnenden Umstände zu bemessen ist.
 
Diese Definition ist erheblich weiter als der deutsche Arbeitnehmerbegriff. Auf Grundlage dieses Verständnisses hat der EuGH daher entschieden, dass der Fremdgeschäftsführer einer deutschen GmbH die oben genannten Voraussetzungen erfüllt und somit als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn anzusehen ist. Die Folge hiervon ist, dass der Fremdgeschäftsführer bei der Frage der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer in einem Betrieb nach § 17 KSchG mitzuzählen ist.
 
So stellt der EuGH in seiner Begründung fest, dass es zunächst keine Rolle spielt, ob der zugrunde liegende Geschäftsführeranstellungsvertrag nach nationalem Recht kein Arbeitsvertrag ist. Entscheidend ist alleine eine Betrachtung der Arbeitnehmereigenschaft anhand „objektiver Kriterien”, wobei eine Leistungserbringung nach Weisung ein wesentliches Merkmal des Arbeitsverhältnisses darstellt. Der EuGH begründet seine Entscheidung maßgeblich damit, dass der Fremdgeschäftsführer der Aufsicht und den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterliegt und diese ihn jederzeit von seinem Amt abberufen kann.
 
Zusätzlich hat der EuGH der Tatsache, dass der Geschäftsführer keine Anteile an der GmbH hielt, ausdrücklich keine entscheidende Bedeutung für die Frage der Arbeitnehmerstellung zugemessen. Bis zu einer anderweiten Entscheidung ist daher davon auszugehen, dass auch der Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer im Rahmen des § 17 KSchG Berücksichtigung findet.
 
Auch sieht der EuGH keinen Verstoß gegen Sinn und Zweck der Massenentlassungsrichtlinie und begründet kurz und knapp, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, weshalb Organmitglieder generell aus der Massenentlassungsrichtlinie herauszunehmen sind. Auch gegenüber Organmitgliedern kann der Zweck erfüllt werden, zuständige Behörden in Kenntnis zu setzen, damit diese nach Lösungen für die Probleme suchen können, die durch die Entlassungen aufgeworfen werden. Zudem wird durch eine andere Sichtweise die praktische Wirksamkeit der Massenentlassungsrichtlinie beeinträchtigt, da den anderen Arbeitnehmern sonst ihre Rechte vorenthalten werden.
 

Auswirkungen der Entscheidung

Unabhängig über die Frage der Richtig- oder Unrichtigkeit der Entscheidung des EuGH, hat diese doch maßgeblichen Einfluss auf sämtliche unternehmerische Veränderungen, die die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreichen. Da davon auszugehen ist, dass die deutschen Arbeitsgerichte nicht bis zu einer entsprechenden Gesetzesänderung abwarten, sondern die Entscheidung des EuGH umsetzen werden, sollte im Rahmen von unternehmerischen Veränderungen sorgfältig auf die Schwellenwerte des § 17 KSchG geachtet werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine mögliche Kündigung des Geschäftsführers oder schlimmstenfalls sogar alle Kündigungen wegen Verstoß gegen § 17 KSchG unwirksam sind, sollte trotz Erreichen der Schwellenwerte eine Massenentlassungsanzeige nicht erfolgt sein.
 

zuletzt aktualisiert am 02.11.2015

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