Neue Wege im Norden: Die große Revolution der Verkehrs­netze im Ostseeraum

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veröffentlicht am 24. März 2021 | Lesedauer ca. 6 Minuten


Weit mehr als ein reicher Binnenmarkt: Zwischen Öresund und dem Finnischen Meer­busen entwickelt sich eine hoch industrialisierte, integrierte Region, die zugleich Achse des internationalen Güterverkehrs und Drehscheibe globaler Rohstoffströme ist. Flankiert und massiv gefördert durch die EU entsteht eine neue, bessere und mit der ganzen Welt verbundene Verkehrsinfrastruktur – die Ostsee wird zu einem der globalen Wachstumszentren der nächsten Jahrzehnte.


Der Ostseeraum ist nicht nur die zweitreichste Region Europas, sondern eines der großen Gelenke der Welt­wirtschaft. Zwischen Kopenhagen und Helsinki, zwischen St. Petersburg und Hamburg treffen die Handels­ströme Mitteleuropas, Skandinaviens und Russlands seit Jahrhunderten aufeinander.

Heute wird die Rolle von gleich vier wirtschaftlich mächtigen Trends getragen, die über die bloße Gunst der Geographie hinausreichen: Der nordische Exporthandel wächst rasant, die Erschließung der arktischen Bodenschätze schreitet voran und die globalen Wertschöpfungsketten erfordern eine direkte Anbindung auch an ferne Märkte bis nach China. Schon länger geht das einher mit einer auf den ersten Blick gegenläufigen Tendenz zur Regionalisierung, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wird. Die zuvor über alle Kontinente ungebremst hinweggreifende, von regionalen Zusammenhängen getrennte Globalisierung wird zurückgebunden, kostenoptimierte Lieferketten in Frage gestellt und Risiken neu bewertet, die Weltwirtschaft reorganisiert sich als Netz der Regionen. In der Folge besinnen sich Investoren und der Handel wieder mehr auf die unmittelbare Nachbarschaft – sehr zum Vorteil des Ostseeraums.

Bedingung und Konsequenz der Dynamiken aber ist der Transport von Gütern und Menschen. Die neuen Größenordnungen verlangen nach neuer Infrastruktur, neuen Ansätzen in der Logistik und starken Begleit­industrien in Verarbeitung, Veredelung und Vertrieb.

 


Vom Öresund zum Finnischen Meerbusen – die nordische Dimension

Lange vor Gründung der Europäischen Union vereinbarten Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark einen tief integrierten Binnenmarkt, der unter der erfolgreichen Marke „The Nordics” zum wohl attraktivsten und jedenfalls wohlhabendsten Handelsplatz des alten Kontinents wurde. Die beeindruckende Öresundbrücke, die Malmö und Kopenhagen verbindet, gab dem europäischen Motto der „regionalen Integration” vor gut zehn Jahren eine neue Bedeutung und ist selbst zum Motor des nordischen Wirtschaftswunders geworden. V.a. aber haben politische Stetigkeit und sozialer Ausgleich eine politische Währung geschaffen, die die nordischen Länder klug zu investieren wissen. Eine global vernetzte Industrielandschaft, eine überaus rege öffentliche und private Bauwirtschaft, ausgezeichnete Bedingungen für Forschung und Entwicklung, ein innovativer, wachsender IT-Sektor und die sich rasch verändernden Energiemärkte treiben so einen seit über zwanzig Jahre anhaltenden Aufschwung.

Zugleich bringen die Baltischen Staaten eine frisch modernisierte und Technologie-getriebene Wirtschafts­ordnung sowie hochmobile, junge Arbeitskräfte mit und bieten sich als kundige (wenn auch nicht immer konfliktfreie) Verbindung nach Russland an. Der Anrainerstaat Deutschland hingegen öffnet die Region hin zu Europas wichtigster Volkswirtschaft mit ihrem vielfältigen Mittelstand und schierem wirtschaftlichen und politischen Gewicht.

Dem Norden jedenfalls geht es gut. Autark aber ist die exportorientierte Region dabei nicht, bei Handel und Direktinvestitionen sind Deutschland und die anglo-amerikanische Welt wichtigster Bezugspunkt. Und eine leistungsfähige und umfassende Teilhabe an den europäischen und globalen Waren- und Kapitalströme ist mehr denn je Voraussetzung des nordischen Wohlstands.


„Hoher Norden” - die Arktische Dimension

Die Dynamik der skandinavisch dominierten Ostseemärkte verebbt nicht wie bisher an der Eisgrenze, denn der Rohstoffhunger einer globalisierten und konsumgetriebenen Fertigung motiviert die Suche nach neuen Ressourcen. Klimawandel und das frei flottierende Kapital der Industriestaaten eröffnen technisch und finanziell den Zugang zu einem der reichsten Reservoirs der Welt: der Arktis.

Mehr als 25 Prozent der Öl- und Gas-Reserven und 17 Prozent der mineralischen Bodenschätze der Welt befinden sich jenseits des Polarkreises, zusammen mit fast 70 Prozent des Waldbestandes der EU. Schweden, das gut 95 Prozent der europäischen Eisenerzförderung besorgt, verlagert ganze Städte gen Norden, um in den nächsten Jahrzehnten eine Verdreifachung der bisherigen Eisenfördermenge zu erzielen. Norwegen plant in den nächsten Jahren die Erschließung riesiger Öl- und Gasfelder im ganz hohen Norden und wird damit wohl zum wichtigsten Energie-Lieferanten der EU.


Der Klimawandel, gegen den der finnische Staatspräsident noch 2019 beim Klimagipfel in Chile die „Prinzipien von Helsinki” verkündete, wird dabei ironischerweise den größten Beitrag leisten. Das Tauen des Eises erlaubt die seit Jahrhunderten erträumte „Nordostpassage”, die 2017 das erste Mal ohne den Einsatz von Eisbrechern durchfahren wurde. Über den eurasischen Seeweg soll schon ab 2050 mehr transportiert werden als über den Suez-Kanal; die Beringsee wird zum maritimen Nachbarn.


Russland, Nordstream und die „Neue Seidenstraße” - die globale Dimension

Der Handel mit der Welt ist aber längst nicht auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt. Auf dem Grunde der Ostsee verlaufen demnächst zwei Doppel-Pipelines, die russisches Erdgas nach Westeuropa leiten. Politisch hochumstritten ist die unmittelbare Zukunft von Nordstream 1 und 2 so unklar wie ihre langfristige Bedeutung außer Zweifel steht: Europa wird noch auf Jahrzehnte Energie aus Russland beziehen, als Teil einer oft volatilen aber stets wichtigen Handelsbeziehung, die wie schon seit Jahrhunderten im Ostseeraum ihr Zentrum findet.

Doch Russland ist nicht länger der einzige Riesenmarkt, an den die Ostsee grenzt. Noch sind es die dreimal in der Woche rollenden, kilometerlangen Frachtzüge, die Asien über Odessa, Kiev, Minsk und Vilnius mit Klaipėda und damit der Ostsee verbinden. In den nächsten Jahren aber werden die Schienennetze bis nach China massiv ausgebaut und die Nordostpassage erschlossen – über See und auf dem Landweg rücken die asiatischen Märkte näher, die Ostseeregion braucht die großen Umschlaghäfen an den Ozeanen der Welt nicht länger, um an die großen Warenströme der Globalisierung anzuschließen. Ob all das als politisches Projekt Chinas unter dem Schlagwort „Neue Seidenstraße” seinen Beginn nimmt oder nicht, die Ostsee-China-Achse wird eine der großen, neuen Handelsrouten der nächsten Jahrzehnte.


Häfen, Schienen, Korridore – die technische Dimension

Rohstoffgewinnung und regionale Integration hängen wesentlich von der Effizienz der Transportwege ab. Das Wachstum an der Ostsee wird deshalb begleitet von einem beispiellosen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Er umfasst die umfassende Ertüchtigung der Eisenbahnverbindungen ebenso wie den Bau neuer Straßen bis in den Polarkreis – als Beispiele seien die Rail Baltica, die schon bald Paris mit Helsinki verbinden wird und der Ausbau des finnischen Autobahnnetzes genannt. Bekannter noch sind die manchmal spektakulären Brücken- und Tunnelprojekte vom Öresund über die Fehmarnbelt-Querung bis hin zum geplanten Tunnel zwischen Tallinn und Helsinki.

Wichtigstes Feld der Erneuerung aber ist die Schifffahrt. Mit ihr werden kleinere und mittlere Häfen an Bedeutung gewinnen, auch durch die verbrauchsnahe Verteilung norwegischen Gases über LNG-Terminals und die in Zukunft allemal dezentralere Verteilung von Verbrauchsgütern und Rohstoffen. Dezentralisierung ist dabei sowohl Folge neuer betriebswirtschaftlicher Realitäten, als auch ein politisch gesteuerter Trend: Bis 2030 sollen in der Europäischen Union 30 Prozent des Güterverkehrs von der Straße auf Schiff und Eisenbahn verlagert und in großen Schritten das Ziel eines klimaneutralen Transportwesens erreicht werden. Nur über die engmaschige Nutzung und tiefe Integration von Wasser und Schiene kann das gelingen.

Dafür aber werden nicht nur Häfen umgebaut und Schienen verlegt. Neue technische Standards müssen verhandelt und gesetzt, IT-Systeme vereinheitlicht und verbunden werden. Die Digitalisierung wird weitaus wichtiger sein als die ehemals entscheidenden Fragen zu Spurweiten und Containergrößen. Die Revolution der infrastrukturellen „Hardware” wird eine Revolution der „Software” nach sich ziehen.


Fördern und fordern – die Rolle der Europäischen Union

Die regulatorische und finanzielle Kraft der Europäische Union (EU) wirkt in allen hier angerissenen Dimen­sionen als Beschleuniger, Koordinator und durchaus auch als eigene politisch motivierte Kraft.

Über oft sehr langfristig angelegte Programme nimmt die EU Einfluss. Eigens aufgelegte Fonds wie die „Connecting Europe Facility” (CEF) stellen große Summen zur Verfügung und bestimmen zugleich die technische und logistische Agenda ganzer Regionen, durch örtliche und inhaltliche Priorisierung ihrer großvolumigen Förderprogramme wie dem Strukturmittelfonds, den Regionalentwicklungsfonds und „Horizon” werden entscheidende Weichen gestellt.

Der vielleicht wichtigste Impuls der EU aber ist die politische Einbindung des Ostseeraums in eine gesamt­europäische Infrastrukturstrategie. Gebündelt in der Trans-European Transport Network Policy (TEN-T) wird die Entwicklung von Häfen und Schifffahrt forciert („Motorways of the Seas”) und ganze Verkehrskorridore zwischen den europäischen Regionen neu ausgerichtet („Baltic-Adriatic Corridor”). Der Sog des europäischen Marktes zieht trotz aller tagespolitischen Verwerfungen auch die Nachbarn der Union an, in breit angelegten Initiativen wie der „EU Strategy for the Baltic Sea Region” arbeiten Russland und Belarus ebenso wie Norwegen mit.

Die hier skizzierten Dimensionen haben ein Preisschild: Weit über eine Billion Euro wird allein aus öffentlichen und EU-Mitteln in den nächsten zehn Jahren in die Infrastruktur der Ostsee fließen – die Erschließung der Arktis noch nicht eingerechnet.


Fazit

Verkehrswege entstehen langsam und bleiben lange. Die Anbindung an die arktische und fernöstliche Dimension des Welthandels wird den Ostseeraum noch prägen, wenn die heutigen politischen Verhältnisse längst Geschichte sind. Europa hat die geopolitische Bedeutung der Ostseeregion als Gestaltungsauftrag für die Zukunft erkannt. Zusammen mit den großen Investitionen des wohlhabenden Skandinaviens entsteht einer der modernsten Märkte der Welt, der bereits jetzt über 10 Prozent des globalen Warenumschlags leistet und schon bald eine der wichtigsten Drehscheiben für Rohstoffe und Energie sein wird.

Treiber und letztlich Finanzier der ausdauernden und teuren Anstrengung ist der weltweite Handel. Doch der historisch gewachsene und heute europäisch verbürgte Vorteil der Region liegt in ihrem eigenen Reichtum und ihrer politischen Beständigkeit. Die über 100 Großstädte und stabilen Gesellschaftssysteme besonders an den westlichen Ufern der Ostsee liefern Fachkräfte, Innovationsfähigkeit und Infrastruktur; mit gut 120 Mio. Einwohnern bilden sie einen kraftvollen Binnenmarkt, der den enormen Investitionsaufwand weitgehend selbst stemmen kann.

Für deutsche Unternehmen ist das die vielleicht größte Chance der nächsten Jahrzehnte, in unmittelbarer Nachbarschaft an der nächsten Etappe der Globalisierung teilzuhaben. Ihr Leitmotiv wird regionale Integration bei globaler Vernetzung sein – so wie es die Ostsee seit jeher prägt.

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Jens-Christian Pastille

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