Ausschreibungspflicht von SPNV-Verträgen

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Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass SPNV-Verkehrsverträge grundsätzlich ausschreibungspflichtig sind. Das allgemeine Vergaberecht genießt Vorrang vor der Regelung des § 15 Abs. 2 AEG. Der im konkreten Fall zu prüfende Vertrag war zwar ein Nettovertrag, konnte aber trotzdem nicht als ausschreibungsfreie Dienstleistungskonzession bewertet werden. Zur Vergabe von SPNV-Leistungen unter dem Rechtsregime der neuen Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 ab 3. Dezember 2009 gab der Bundesgerichtshof wichtige Hinweise.
 

Sachverhalt

Am 8. Februar 2011 hat der X. Zivilsenat (Vergabesenat) des Bundesgerichtshofs (BGH) eine lange erwartete Grundsatzentscheidung zur Vergabe von Leistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) gefällt (Az.: X ZB 4/10). Dabei ging es um einen Vergleichsvertrag, der am 24. November 2009 zwischen dem VRR, einem SPNV-Aufgabenträger in Nordrhein-Westfalen und der DB Regio AG geschlossen wurde. In diesem Vergleichsvertrag sollte der am 12. Juli 2004 zwischen den Parteien zunächst bis Dezember 2018 abgeschlossene Verkehrsvertrag u.a. über den Betrieb sämtlicher S-Bahn-Linien in den Kooperationsräumen 1 (VRR) und 9 (Niederrhein) bis Dezember 2023 verlängert werden. Eine Ausschreibung des Vergleichsvertrags fand nicht statt. Dies wurde mittels eines Nachprüfungsantrags bei der zuständigen Vergabekammer Münster durch ein anderes SPNV-Unternehmen gerügt. Sowohl die Vergabekammer als auch daran anschließend der Vergabesenat des OLG Düsseldorf im Beschluss vom 21. Juli 2010 (Az.: VII-Verg 19/10) hatten das Vorgehen des zuständigen SPNV-Aufgabenträgers beanstandet. Eine abschließende Entscheidung konnte das OLG Düsseldorf jedoch nicht treffen. Stattdessen legte es aufgrund seiner abweichenden Meinung zu zwei anderen Oberlandesgerichten die Sache dem BGH vor. Der BGH hat nunmehr die Vergabekammer und das OLG Düsseldorf bestätigt.
 

Verhältnis zwischen allgemeinem Vergaberecht und § 15 Abs. 2 AEG

Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen des BGH zum Verhältnis zwischen dem allgemeinen Vergaberecht und § 15 Abs. 2 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Bislang wurde von einigen Autoren sowie dem OLG Brandenburg in seiner Entscheidung vom 2. September 2003 (Verg W 3/03 und Verg 5/03) aus § 15 Abs. 2 AEG ein Wahlrecht des SPNV-Aufgabenträgers geschlossen, wonach dieser entweder die Leistungen wettbewerblich nach einer förmlichen Ausschreibung oder freihändig vergeben könne. Dem widerspricht der BGH in der Entscheidung vom 8. Ferbruar 2011. Der BGH qualifizierte § 15 Abs. 2 AEG nicht wie das OLG Brandenburg als vorrangige Sondervorschrift gegenüber dem allgemeinen Vergaberecht. Das Gegenteil ist der Fall. § 15 Abs. 2 AEG trat im Zuge der Bahnstrukturreform im Jahre 1994 und damit zeitlich einige Jahre vor dem Vergaberechtsänderungsgesetz vom 26.08.1998 in Kraft. Wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, dass das ältere Gesetz nicht durch das neuere verdrängt wird, hätte er in das Vergaberechtsänderungsgesetz einen Ausnahmetatbestand aufnehmen können. Die in § 100 Abs. 2 GWB durch den Gesetzgeber festgelegten Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Vergaberechts enthalten aber gerade keinen Bezug auf § 15 Abs. 2 AEG. Ein gesetzgeberischer Wille, die Vergabe von SPNV-Leistungen dem Anwendungsbereich des allgemeinen Vergaberechts zu entziehen, ist somit nicht erkennbar.
 
Weiterhin rekurriert der BGH auf die Vorschrift des § 4 Abs. 3 der Vergabeverordnung (VgV), die erst 2002 und damit später als § 15 Abs. 2 AEG und das Vergaberechtsänderungsgesetz erlassen wurde. In § 4 Abs. 3 VgV werden zeitlich übergangsweise bestimmte Vereinfachungen vom materiellen Vergaberecht für Personennahverkehrsleistungen in der Kategorie Eisenbahnen eingeführt. Die Aufnahme dieser Vorschrift in die VgV macht deutlich, dass nach Ansicht des Verordnungsgebers SPNV-Leistungen grundsätzlich nach einem förmlichen Vergabeverfahren vergeben werden müssen. Würde § 15 Abs. 2 AEG freihändige Vergaben ohne weitere Bedingungen zulassen, wäre § 4 Abs. 3 VgV mit seinen genau beschriebenen Voraussetzungen und seiner zeitlichen Begrenzung bis zum 31. Dezember 2014 eine überflüssige Vorschrift.
 
Der BGH stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 VgV im konkreten Fall nicht gegeben waren. Freihändige Vergaben sind nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 VgV ausnahmsweise zulässig, wenn bei der Übertragung mehrerer Linien ein wesentlicher Teil der durch den Vertrag bestellten Leistungen während der Vertragslaufzeit ausläuft und anschließend im Wettbewerb vergeben wird, wobei die Laufzeit des Vertrags zwölf Jahre nicht überschreiten soll. Die mit dieser Vorschrift dem SPNV-Aufgabenträger eingeräumten Möglichkeiten waren bereits mit Abschluss des ursprünglichen Verkehrsvertrags im Jahre 2004 zwischen dem VRR und der DB Regio ausgeschöpft. Sie durften damit nicht erneut im Wege eines Kettenvertrags genutzt werden. Der auf einen Zeitraum von weiteren fünf Jahren (2018 bis 2023) angelegte Vergleichsvertrag enthielt keine wettbewerbsfördernden Komponenten. Vielmehr sollte die DB Regio die meisten Regionalbahn- und Regionalexpressleistungen und sämtliche S-Bahnleistungen statt bis 2018 nunmehr bis 2023 weiterhin in vollem Umfang erbringen. Diese Leistungen wären damit eine unannehmbar lange Zeit dem Wettbewerb entzogen worden.
 

Abgrenzung zwischen Dienstleistungsauftrag und Dienstleistungskonzession

Die zweite interessante Frage der Entscheidung vom 8. Februar 2011 betrifft die Abgrenzung zwischen Dienstleistungsaufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Nur wenn der Vertrag zwischen dem SPNV-Aufgabenträger und der DB Regio als Dienstleistungsauftrag qualifiziert werden kann, findet das allgemeine Vergaberecht Anwendung. Erfüllt der Vertrag hingegen die Merkmale einer Dienstleistungskonzession, liegt kein ausschreibungspflichtiger Dienstleistungsauftrag vor.
 
Der Begriff der Dienstleistungskonzession ist im deutschen Recht nicht näher definiert. Er findet sich in den beiden europäischen Vergaberichtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG. Dort werden als Dienstleistungskonzessionen solche Verträge bezeichnet, die von Dienstleistungsaufträgen nur insoweit abweichen, als die Gegenleistung für die Erbringung der Dienstleistungen ausschließlich in dem Recht zu ihrer Nutzung zuzüglich der Zahlung eines Preises besteht. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) folgert daraus, dass bei einer Dienstleistungskonzession der Konzessionsinhaber das überwiegende wirtschaftliche Risiko für die Vertragserfüllung trägt. In der Entscheidung vom 19. November 2009 (Az.: C-206/08 - Eurawasser) verdeutlichte der EuGH, der Konzessionär müsse bei der Verwertung der ihm übertragenen Leistung den Risiken des Marktes ausgesetzt sein und das Betriebsrisiko ganz oder zumindest zu einem wesentlichen Teil übernehmen. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, stellt eine Einzelfallfrage dar, die die nationalen Gerichte zu klären haben.
 
Im vorliegenden Fall erhielt die DB Regio neben dem Recht, die Dienstleistung zu erbringen und zu nutzen, vom SPNV-Aufgabenträger eine Zuzahlung. Der BGH betont, dass bei einer Dienstleistungskonzession die Zuzahlung nicht über den Charakter eines bloßen Zuschusses hinausgehen darf. Andernfalls würde aus einer Zuzahlung eine Gegenleistung für die Erbringung der Dienstleistung, was charakteristisch für einen Dienstleistungsauftrag ist. Den Vergleichsvertrag qualifizierte der BGH nicht als Dienstleistungskonzession, sondern als vergabepflichtigen Dienstleistungsauftrag. Die DB Regio wurde aus zwei Quellen finanziert, nämlich den Fahrgeldeinnahmen und den Zuzahlungen des SPNV-Aufgabenträgers. Letztere decken rund 64 Prozent der bei Vertragsdurchführung der DB Regio anfallenden Gesamtkosten und übersteigen damit deutlich die Einnahmen aus den Fahrkartenerlösen. Zudem ist die DB Regio während der Vertragslaufzeit keinem direkten Wettbewerb ausgesetzt, weil andere Unternehmen im Vertragsgebiet nicht gleichzeitig dieselben SPNV-Leistungen anbieten dürfen. Fahrgästen bliebe als Handlungsalternative im Wesentlichen nur ein Umstieg auf den Individualverkehr. Das Risiko von Fahrgeldmindereinnahmen konnte daher für die DB Regio als gering eingestuft werden. Für eine Dienstleistungskonzession bestand kein Raum.

Im Vergleichsvertrag erklärte die DB Regio ihre Bereitschaft zu erheblichen Investitionen, die dem Leistungsangebot im Gebiet des SPNV-Aufgabenträgers zugutekommen sollen. Dies entbindet jedoch nicht von einer Anwendung des Vergaberechts. Eine Verlängerung des Vertrags bis zu einer hinreichenden Amortisation der nachträglichen Investitionen darf nur im Rahmen eines Vergabeverfahrens erfolgen.
 
Ebenso spielte der Umstand, dass es sich bei der Verlängerung bis 2023 um einen Vergleichsvertrag handelte, keine Rolle. Vergaberechtlich unbeachtlich wäre nur ein unbedeutender Nachtrag des ursprünglichen Vertrags gewesen. Das war angesichts der Verlängerung über fünf Jahre und dem damit verbundenen erheblichen Leistungsvolumen nicht der Fall.
 

Vergaben von SPNV-Leistungen unter dem Regime der neuen Verordnung (EG) Nr. 1370/2007

Die neue Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 (VO 1370) konnte auf den Vergleichsvertrag nicht angewandt werden, weil dieser am 24. November 2009 und damit kurz vor dem Inkrafttreten der VO 1370 am 3. Dezember 2009 abgeschlossen wurde. Der BGH hätte deshalb in der Entscheidung vom 8. Februar 2011 nicht näher auf die VO 1370 einzugehen brauchen. Gleichwohl finden sich dort wichtige Hinweise.
 
Zukünftig werden Vergaben von SPNV-Leistungen nach der VO 1370 zu beurteilen sein. Anders als nach der bisherigen Rechtslage kommt unter dem Regime der VO 1370 ein Vorrang des europäischen Vergaberechts nur bei Personenverkehrsdiensten mit Bussen und Straßenbahnen in Betracht, nicht hingegen mit Eisenbahnen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VO 1370). Für den Eisenbahnverkehr eröffnet Art. 5 Abs. 6 VO 1370 die Möglichkeit zu einer Direktvergabe ohne wettbewerbliches Vergabeverfahren. Art. 5 Abs. 6 VO 1370 steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass eine Direktvergabe nicht durch nationales Recht untersagt ist. Wegen der Wichtigkeit dieser Frage nutzte der BGH die Entscheidung vom 8. Februar 2011 zu entsprechenden Ausführungen. Dabei stellte er klar, dass das nationale Vergaberecht einen solchen Vorbehalt darstellt und somit einer Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 entgegensteht. Die Direktvergabemöglichkeit nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 wird zukünftig nur anwendbar sein, wenn kein dem Vergaberecht unterfallender Dienstleistungsauftrag vorliegt, sondern eine Dienstleistungskonzession, für die das nationale Vergaberecht nicht gilt.

 

Bewertung 

Der Beschluss des BGH vom 8. Februar 2011 klärt die seit vielen Jahren umstrittene Frage des Verhältnisses zwischen dem allgemeinen Vergaberecht und § 15 Abs. 2 AEG. Er ist im Interesse der Rechtssicherheit nachhaltig zu begrüßen.
 
Interessant sind die Ausführungen des BGH zur Abgrenzung zwischen Dienstleistungsauftrag und Dienstleistungskonzession. Der Vergleichsvertrag zwischen SPNV-Aufgabenträger und DB Regio wurde als Nettovertrag bezeichnet. Der Beschluss des BGH macht deutlich, dass es für eine Dienstleistungskonzession nicht allein auf dieses Kriterium ankommt. Maßgeblich ist vielmehr die konkrete Verteilung des Risikos in jedem Einzelfall. Der BGH lehnt sich dabei ausdrücklich an aktuelle Entscheidungen des EuGH zu Dienstleistungskonzessionen an.
 
Bedeutsam für die zukünftige Vergabe von SPNV-Leistungen ist der Hinweis des BGH auf den Vorbehalt des nationalen Vergaberechts gegenüber der Direktvergabemöglichkeit des Art. 5 Abs. 6 VO 1370. Vonseiten einiger Bundesländer sind zwischenzeitlich Bemühungen bekannt geworden, durch eine gesetzgeberische Klarstellung die Direktvergabeoption nach Art 5 Abs. 6 VO 1370 in Deutschland ausdrücklich für anwendbar zu erklären. Es zeichnet sich freilich ab, dass zu dieser Frage unterschiedliche politische Vorstellungen herrschen. Kurzfristig ist daher nicht mit einer Gesetzesinitiative zu rechnen.
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