Ein informierter Kunde ist ein glücklicher Kunde

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veröffentlicht am 14. Januar 2022 | Lesedauer ca. 5 Minuten

von Marina Kreajeva

 
Der Beruf des Übersetzers ist gleichzeitig mit der Entwicklung von eigenständigen Sprachen entstanden, und trotzdem gibt es für die Bewertung der Qualität der Übersetzerarbeit immer noch keine einheitlichen Kriterien. Auf dem Übersetzungs­markt sind viele Übersetzer und Anbieter von Übersetzungsleistungen tätig (meist in Kombination mit anderen linguistischen und nichtlinguistischen Leistungen), deren Kompetenzen, Verantwortungsbewusstsein und Verständnis von Übersetzungs­leistungen stark variieren.
 

 

Fehlen von einheitlichen Kriterien für Übersetzungsqualität

Die verpflichtenden Standards, die in Russland ausgearbeitet wurden, z. B. GOST 7.79-2000 „Transkriptionsregeln für die Wiedergabe der kyrillischen Schrift mit lateinischen Schriftzeichen”, haben einen nur sehr begrenzten Bezug zur Übersetzertätigkeit. Der Verband der russischen Übersetzer hat bereits die dritte Fassung von „Übersetzung: Empfehlungen an den Übersetzer, Auftraggeber und Redakteur (Moskau, 2015)” erstellt und veröffentlicht1. Sie wurden durch den Verbandsvorstand und die Nationale Übersetzerliga verabschiedet und durch das Russische Übersetzerforum unterstützt, verbindlich sind diese Empfehlungen für die Akteure auf dem Übersetzungsmarkt jedoch nicht.
 

Der aktuell maßgebliche Qualitätsstandard für Übersetzungsleistungen ist der Europäische Standard ISO 17100-2015, der den Anwendungsbereich und die Terminologie der Übersetzungsleistungen festlegt und die wichtigsten Anforderungen an die Übersetzertätigkeit formuliert, darunter auch an Kompetenzen der Auftragnehmer, die technische Ausrüstung, die Qualitätskontrolle des Endprodukts und das Verfahren für die Erbringung von Übersetzungsleistungen.
 

Dieser Standard lässt den Einsatz von CATs (computer-aided translation engines) zu, also von Computerprogrammen und Übersetzungsdatenbanken, die dem Nutzer eine mögliche Übersetzung vorschlagen. Der Übersetzer überprüft, korrigiert, ergänzt, akzeptiert oder lehnt den Vorschlag ab, alles im Abgleich mit dem Originaltext. Die maschinelle Übersetzung und die nachfolgende Korrektur, die als Behebung von Fehlern und groben Patzern im automatisch erzeugten Text ohne Abgleich mit dem Original zu verstehen ist, werden ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des Standards ausgeschlossen.
 

Der Standard beschreibt gesondert als Kernelement der Qualitätssicherung die Anforderungen an die Organisation der Interaktion zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer von Übersetzungsleistungen. Worin besteht der Zweck dieser Interaktion? Der Standard besagt, dass die Übersetzung eine hohe Qualität hat, wenn sie zu den vom Auftraggeber und Auftragnehmer vereinbarten Zwecken genutzt werden kann und die Spezifikationsanforderungen eingehalten werden. Für die Qualität ist somit wichtig, dass die Bedürfnisse des Kunden eindeutig und vollständig formuliert und dem Übersetzer mitgeteilt werden sowie sich im Endprodukt widerspiegeln.
 

Kundenanforderungen vs. tatsächliche Bedürfnisse

Aber bedeutet die Umsetzung der Anforderungen des Kunden automatisch, dass er mit der Endleistung zufrieden sein wird? Nicht unbedingt. Die Wünsche des Auftraggebers stimmen oft nicht mit seinen tatsächlichen Bedürfnissen überein, die geäußerten Wünsche können außerdem uneindeutig sein und folglich falsch interpretiert werden. Einige Auftraggeber verstehen zudem nicht immer, was zu den Pflichten des Übersetzers gehört, und schreiben ihm manchmal die Verantwortung für eigene Entscheidungen zu – z. B. wenn nach der Veröffentlichung eines übersetzten Marketingtexts der Erfolg ausbleibt. Wer ist hier schuld – der Übersetzer, der den Ursprungstext originaltreu übersetzte, aber das Marketing-Vokabular nicht beherrscht, oder der Marketingspezialist, der bei der Vorbereitung des Originals die Zielgruppe falsch identifiziert, von deren Bedürfnissen eine nur vage Vorstellung und den Text nicht an interkulturelle Unterschiede angepasst hat?
 

Das Problem wird außerdem häufig dadurch verschärft, dass der Auftraggeber kein Linguist ist und sich den Übersetzungsprozess mit seinen Besonderheiten nur schemenhaft vorstellen kann. Im Weiteren werden wir einige (leider) verbreitete Stereotype über den Übersetzerberuf unter die Lupe nehmen.
 

Verbreitete Missverständnisse

„Um eine gute Übersetzung anzufertigen, muss man nur die Fremdsprache gut beherrschen.“ Das ist nicht wahr: Bei weitem nicht jeder, der eine Fremdsprache kennt (oder auch gut beherrscht!), kann eine hochwertige Übersetzung eines fremdsprachigen Textes in seine Muttersprache anfertigen, von Übersetzungen aus der Muttersprache in eine Fremdsprache ganz zu schweigen. Bei weitem nicht alle professionellen Übersetzer trauen sich zu, in beide Richtungen zu übersetzen, weil ihnen bewusst ist, dass ihre Wissenslücken der Qualität des Endproduktes schaden können. Viel häufiger kommt es vor, dass der Übersetzer aus einer Fremdsprache in seine Muttersprache übersetzt. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik: Stellen Sie sich nur vor, wie lange eine Person eine Fremdsprache lernen muss, um das Niveau eines ausgebildeten Muttersprachlers zu erreichen. Und ein guter Übersetzer muss nicht nur umfassende Sprachkenntnisse besitzen, sondern sich auch mündlich und schriftlich klar, genau und sprachlich korrekt ausdrücken und in zwei Sprachen parallel denken können. Menschen, die eher technisch als geisteswissenschaftlich veranlagt sind, schlage ich gewöhnlich vor, die Kompetenzen eines Autofahrers mit denen eines Mechanikers zu vergleichen. Nicht jeder Fahrer wird wohl selbständig die Ursache eines Defekts ausmachen und das Fahrzeug reparieren können.
 

Das führt uns umgehend zum nächsten Problem. Manche meinen, dass „ein guter Übersetzer alles übersetzen kann.“ Das stimmt einfach nicht. Versuchen Sie mal, in Ihrer Muttersprache einen wissenschaftlichen Text zur Molekularbiologie oder Kernphysik zu bewältigen. Wieviel werden Sie davon verstehen, wenn Sie nicht selbst als Experte auf diesem Gebiet arbeiten? Und wieviel davon werden Sie anderen so beschreiben können, dass bei Ihren Lesern oder Zuhörern ein kohärentes und klares Bild entsteht? Eine Übersetzung soll ja den Sinn des Originals richtig wiedergeben und nicht mechanisch die Wörter einer Sprache durch die einer anderen ersetzen. Oft kann der Übersetzer den richtigen Begriff nur dann finden, wenn er den Kontext gut verstanden hat. Diesen Stolperstein kann übrigens eine maschinelle Übersetzung immer noch nicht vollständig überwinden, denn die Algorithmen treffen ihre Entscheidungen aufgrund der Häufigkeit des Wort- bzw. Wortgruppenvorkommens und können deren Bedeutung nicht verstehen. Einige Übersetzerschulen verbieten den Absolventen schlichtweg, an Übersetzungen aus Wissensbereichen zu arbeiten, in denen sie sich nicht gut genug auskennen. Denn ein aus Sicht eines Laien kleiner Fehler, der sich in der Übersetzung einer Gebrauchsanweisung zu einem teuren Gerät, eines Beipackzettels zu einem Medikament für Menschen oder Tiere, einer Krankengeschichte, Sicherheitsvorschriften oder Zeugenaussagen versteckt hat, kann hohen materiellen oder immateriellen Schaden verursachen, Risiken für Leib und Leben erzeugen und generell desaströse Folgen haben. In einigen Ländern wird diesem Problem entgegengewirkt, indem die Übersetzer bei zuständigen Behörden eine spezielle Prüfung ablegen und dadurch eine Befähigung erhalten. Gerichte und die Notarkanzleien können dann in offiziellen Angelegenheiten nur mit Übersetzern arbeiten, die durch das Justizministerium akkreditiert wurden.
 

Der bedauerlichste Mythos betrifft jedoch die Unterschätzung der Rolle des Übersetzers und der Wichtigkeit einer guten Übersetzung. Daraus entstehen wiederum unrealistische Fristvorgaben. Leider finden sich immer noch Auftraggeber, die glauben, dass ein Dokument, das wochen- oder gar monatelang durch ein professionelles Team für zehntausende Euro erstellt wurde, jedermann in ein paar Tagen übersetzen kann, obendrein für einen Bruchteil seines Werts.
 

Der Zeitaufwand der (insb. bei Unternehmen eingestellten) Übersetzer wird manchmal ebenfalls nicht ausreichend respektiert. Es kommt z. B. vor, dass in einem hunderte Seiten umfassenden Vertragsentwurf nur drei oder vier Absätze mit Preisen und Lieferfristen tatsächlich von Interesse sind. Um Zeit zu sparen, wäre es, anstatt das gesamte Dokument übersetzen zu lassen, sinnvoller, zuerst den Inhalt und die Überschriften zu übersetzen und gleichzeitig die wichtigen Abschnitte zu markieren. Diesem Schema folgt aber nicht jeder interne Auftraggeber.
 

Einige Leute beharren weiterhin hartnäckig auf der Überzeugung, dass es doch irgendwo mythenhafte Übersetzer mit übernatürlichen Kräften gibt („Du bist doch Übersetzer, oder?!“). Sie verzichten gern auf Privatleben, brauchen keine Freizeit und sind zu jeder Tages- und Nachtzeit, egal ob Arbeits-, Feiertag oder Wochenende, bereit und begeistert, eigene Angelegenheiten und andere Aufträge liegen zu lassen und zu einem anderen Auftraggeber zu eilen. Sie übersetzen beliebige Texte innerhalb von beliebig kleinen Fristen in beliebig großem Umfang, und zwar unabhängig von der Sprache und Vergütung (am besten kostenlos), weil das der einzig mögliche Sinn ihres Lebens ist.
 

Interaktion als Schlüssel zum Erfolg 

Damit die Qualität der Übersetzung hoch bleibt, müssen die in diesen Prozess involvierten Akteure verstehen, dass sich die Qualität aus gegenseitiger Anpassung und enger Zusammenarbeit zusammensetzt: zwischen dem Kunden und dem Übersetzer, aus Erklärungen (auch wenn diese höchst intuitiv und laienhaft sind, oder wenn die Fragen aus Ihrer Sicht profan sind – der Übersetzer ist ja kein Fachmann!), aus der Besprechung Ihrer Anforderungen, manchmal aus den Anmerkungen des Übersetzers (der durchaus imstande ist, formale und logische Lücken und Fehler aufzuzeigen, denn er ist der aufmerksamste Leser Ihres Textes) und ggf. aus einer logischen Darlegung der Ursachen Ihrer Unzufriedenheit mit dem Endergebnis. Im Zuge dieser Zusammenarbeit und in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt werden langfristige geschäftliche Beziehungen geschmiedet, die den Interessen von beiden Parteien in größtmöglichem Maße entsprechen.
 
 1 Zum Beispiel auf http://www.russian-translators.ru/perevodchesky-opit/practika/01/

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