Funktionsweise der Bedarfsprüfung nach den neuen Auslegungsleitlinien der EU-Kommission zur VO 1370/2007 (Teil 2)

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veröffentlicht am 06. September 2023

 

Im Kompassbeitrag vom 26. Juli 2023 haben wir unsere Newsletter-Reihe zu den neuen Leitlinien der EU-Kommission zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 (VO 1370) angekündigt. Diese Ausgabe befasst sich mit den neuen Anforderungen zur Bestimmung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung im Rahmen einer sogenannten Bedarfsprüfung.

 

Nach bisheriger Lesart der VO 1370 stand den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen in der Frage zu, wie sie gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen definieren. Gem. Art. 2a der VO 1370 obliegt es den zuständigen Behörden, Spezifikationen der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen gem. Art. 2e VO 1370 festzulegen. Einzige Grenze für diesen von der Kommission eingeräumten Ermessenspielraum war bisher der (seltene) Fall, dass diese Spezifikation von der Kommission als offensichtlicher Fehler in Frage gestellt wurde. In den neuen Auslegungsleitlinien wird nun betont, dass die Befugnis des Mitgliedstaats bzw. der Behörden zur Definition der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nicht unbegrenzt und nicht willkürlich mit dem alleinigen Ziel ausgeübt werden solle, einen bestimmten Sektor der Anwendung der Wettbewerbsregeln zu entziehen. Zu diesem Zweck hat die Kommission sich nun zusätzliche und strengere Vorgaben gegeben.

 

Danach müssen die Spezifikationen für öffentliche Dienstleistungen mit den politischen Zielen, die in den Strategiepapieren der Mitgliedstaaten zur Politik für den öffentlichen Verkehr niedergelegt sind, in Einklang stehen. Diese Strategien beziehen sich insbesondere auf die territoriale Anbindung, einschließlich grenzüberschreitender Verbindungen und die Entwicklung eines nachhaltigen Verkehrs sowie die Festlegung der Mittel, die erforderlich sind, um diese Ziele zu erreichen.

 

Als zweiten Punkt betont die Kommission, dass der Regelungsinhalt des Art. 2e VO 1370 entsprechend der Rechtsprechung der EU-Gerichte ausgelegt werden solle (insbesondere Urteil vom 01.03.2017, Société nationale maritime Corse Méditerranée (SNCM)/Kommission, Az.: T-454/13, ECLI:EU:T:2017:134, Rn. 134). Aus dieser Rechtsprechung geht hervor, dass die zuständige Behörde vor der Festlegung von Spezifikationen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen prüfen solle, ob ein tatsächlicher Bedarf an den geplanten öffentlichen Verkehrsdiensten besteht. Die Beurteilung des Vorliegens eines solchen „tatsächlichen Bedarfs” durch die Behörden habe innerhalb einer „3-Schritt-Prüfung” zu erfolgen:

 

  1. Zunächst sollten die Behörden im Rahmen einer ex ante-Bewertung prüfen, ob eine Nachfrage seitens der Nutzer hinsichtlich der öffentlichen Verkehrsdienste tatsächlich besteht. Um eine Organisation der öffentlichen Verkehrsdienste im Interesse der Nutzer zu gewährleisten, seien dabei verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, insbesondere die Nachfrage, die sich nach vernünftigem Ermessen aus politischen Zielen wie der Förderung eines nachhaltigen Verkehrs, der regionalen Konnektivität, der öffentlichen Gesundheit oder des sozialen Zusammenhalts ergeben kann. Als empirisch-gestützte Methoden werden die Verwendung historischer Daten, repräsentativer Umfragen oder einer öffentlichen Konsultation vorgeschlagen.
  2. In einem zweiten Schritt sei zu prüfen, ob diese Nachfrage von den Marktteilnehmern nicht, und sei es nur teilweise, ohne gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen befriedigt werden kann; ein echter Bedarf an Dienstleistungen könne ansonsten nicht bestehen. Zu diesem Zweck sei wiederum eine Bewertung/Analyse des Marktangebots vorzunehmen. In diese seien auf der einen Seite die Betreiber einzubeziehen, indem sie zu ihrem Interesse an der Bereitstellung der betreffenden Dienste im Rahmen des freien Marktzugangs konsultiert und die Ergebnisse der Konsultation beurteilt werden. Auf der anderen Seite erfolge eine Konsultation der Marktteilnehmer, beispielsweise zu der Art, Umfang und Häufigkeit der Dienste, die sie in dem betreffenden geografischen Gebiet bereits erbringen oder zu erbringen beabsichtigen, oder zu der Höhe der Tarife, die sie anwenden oder anzuwenden gedenken.
  3. In einem letzten Schritt sei eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. Dies umfasse eine Prüfung, ob der gewählte Ansatz die geringste Einschränkung der Grundfreiheiten darstelle und das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts am wenigsten beeinträchtigt sei. Bei dieser Abwägungsfrage könne die prüfende Behörde alternative Maßnahmen im Einklang mit dem Unionsrecht in Betracht ziehen und deren Effizienz beurteilen. Als Beispiel wird von Unternehmensvertretern die Situation angeführt, dass alternativ zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags (an einen einzigen Betreiber) die Festlegung eines Höchsttarifs (für alle Betreiber) zu erwägen sei, mit der Folge, dass „nur” allgemeine Vorschriften (aV) erlaubt sind, öffentliche Dienstleistungsaufträge (öDA) hingegen schon nicht mehr.

 

Sollte ein solcher Nachweis bzgl. der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des Umfangs der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nicht erbracht werden, betont die Kommission als rechtliche Konsequenz die Ansicht des EuGH, nach der das Fehlen eines solchen Nachweises einen offensichtlichen Beurteilungsfehler bei der Spezifikation der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung darstellen könne, den die Kommission in der Folge zu berücksichtigen habe.

 

Bewertung für die Praxis

Die überarbeiteten Mitteilung der Kommission erhöhen die  Anforderungen an die Mitgliedstaaten und Behörden zur Festlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen. Bisher war es nicht erforderlich, einen empirisch-gestützten Nachweis bzgl. eines Marktversagens ohne die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu erbringen. Dies Neuregelung bewirkt, dass ab sofort eine genaue Gegenüberstellung der Situation mit und ohne die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung vorzunehmen ist (vgl. Schritt 2 der Prüfung). Ein solches Verfahren unter Zuhilfenahme von Marktanalysen und Konsultationen wird den Aufwand zur Nachweisführung deutlich erhöhen. Möglicherweise kann dabei aber auf Angaben im Nahverkehrsplan abgestellt werden. In jedem Fall ist aber zu empfehlen, die Prüfung und Dokumentation für die jeweilige gemeinwirtschaftliche Verpflichtung vor der Vorabbekanntmachung vorzunehmen. Die schlichte Behauptung, dass die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung in dem gesamten Betrieb mit „Mann und Maus” bestünde, wird zukünftig nicht mehr tragen. Festzuhalten bleibt die Zentralität des Begriffs „gemeinwirtschaftliche Verpflichtung”. Deren Inhalt mit Leben zu erfüllen unter Bezugnahme auf die o.a. öffentlichen Strategien wird künftig die Wegscheide zwischen „preislichen Vorgaben”  (im Sinne von Höchsttarif) – dann aV – oder „Qualitätsvorgaben” – dann auch öDA – sein.

 

Angemerkt sei auch, dass die neuen Anforderung mehr Rechtssicherheit mit sich bringen können: Durch die Erhöhung der Messlatte greift die oberste europäische Wettbewerbsbehörde ein weiteres Mal lenkend ein und bemüht sich um eine transparente Begrenzung der unter Umständen wettbewerbsbeschränkenden finanziellen Zuschüsse an Verkehrsunternehmen. Ebenfalls zu begrüßen ist die Klarstellung der Kommission zur Verrechnungsmöglichkeit von erwerbs- und gemeinwirtschaftlichen Teilleistungen.

 





Rödl & Partner hat eine Checkliste erstellt, mit der Aufgabenträger vor Erlass eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags oder einer allgemeinen Vorschrift eine möglichst sichere Bedarfsprüfung durchführen können.

 
 
 
 
 
 
 
 

Eine offizielle Fassung der Auslegungsleitlinien wurde auf der Internetseite der EU-Kommission veröffentlicht unter: EUR-Lex - 52023XC0626(01) - EN - EUR-Lex (europa.eu)

 

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