System der ungarischen Gerichtsbarkeit

PrintMailRate-it

veröffentlicht am 4. Mai 2021 | Lesedauer ca. 7 Minuten

 



Internationale Zuständigkeit

Sofern in einem Rechtsverhältnis ein ausländisches Element vorkommt, müssen die Regelungen der internationalen Zuständigkeit geprüft werden. Es geht darum, festzustellen, ob die Gerichte eines Staats zur Entscheidung in der Angelegenheit berechtigt sind.


Gemäß der EU Verordnung Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerken­nung sowie Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüssel Ia), kann eine natürliche Person grundsätzlich vor dem Gericht eines Mitgliedstaats beklagt werden, in dem ihr Wohnsitz liegt. Daneben legt die Brüssel I-Verord­nung eine Reihe besonderer Zuständigkeiten fest.


Gemäß der obigen Verordnung können die Parteien jedoch unabhängig von ihrem Wohnsitz vereinbaren, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats der EU über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit bzw. über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis stammende entscheiden sollen. Im Falle einer solchen Vereinbarung der Parteien sind also das Gericht oder die Gerichte des Mitgliedstaats – sofern die Parteien nicht anders vereinbart haben – ausschließlich zuständig; es sei denn, die Vereinbarung ist nach dem Recht des Mitgliedstaats materiell nichtig.


Aufbau der Gerichtsbarkeit und Gerichtswege in Ungarn

In Ungarn existieren drei Instanzen der Gerichtsorganisation.


In 1. Instanz verhandeln:

  • die Amtsgerichte,
  • die Landgerichte.

In 2. Instanz verhandeln:

  • die Landgerichte,
  • die Tafelgerichte.

In 3. Instanz verhandeln (in Strafangelegenheiten):

  • die Tafelgerichte,
  • die Kurie.

Das ungarische Gerichtssystem ist ein ordentliches Gerichtssystem. Dazu gehören das Amtsgericht, das Landgericht, das Tafelgericht und die Kurie. Die Verwaltungs- und Arbeitsgerichte haben als besondere Gerichte in Ungarn existiert, wurden aber mit dem 1. April 2020 abgeschafft. Die Angelegenheiten, die vorher zu den Verwaltungs- und Arbeitsgerichten gehört haben, wurden in das ordentliche Gerichtssystem integriert.


Die Arbeitsteilung unter den Gerichten mit derselben Gerichtsbarkeit erfolgt aufgrund der territorialen Grundlagen.


Die Gerichte beschäftigen sich mit den folgenden Angelegenheiten:

 

Amtsgerichte

 

Landgerichte

 

 

Tafelgerichte

In Ungarn gibt es fünf Tafelgerichte: das Tafelgericht Debrecen, das Tafelgericht der Hauptstadt Budapest, das Tafelgericht Győr, das Tafelgericht Pécs und das Tafelgericht Szeged. Sie entscheiden über die Berufungen gegen die Entscheidung der Landgerichte.


Kurie

Die Kurie (früher Oberster Gerichtshof) entwickelt die einheitliche Rechtsprechung. Sie fasst u.a. Rechtseinheitsbeschlüsse und führt Rechtspraxisanalysen durch. Zudem prüft die Kurie Wiederaufnahme- und Überprüfungsanträge gegen rechtskräftige Urteile und geht als Gericht dritter Instanz in den gesetzlich bestimmten Strafangelegenheiten vor.


Im ungarischen Zivilprozess sind Anträge gegen rechtskräftige Urteile nur unter sehr engen Voraussetzungen und sehr begrenzt möglich.


Ein Wiederaufnahmeantrag ist u.a. dann möglich, wenn die betreffende Partei auf eine solche Tatsache oder auf einen solchen Beweis, sowie auf solche rechtskräftigen richterlichen oder anderen behördlichen Beschlüsse Bezug nimmt, die das Gericht im Klageprozess nicht beurteilt hat. Dazu vorausgesetzt, dass das – im Falle dessen Beurteilung – in einen günstigeren Beschluss hätte resultieren können und die Partei ohne ihr Verschulden nicht in der Lage war, die im Wiederaufnahmeantrag genannten Tatsachen, Beweise oder Beschlüsse während des vorherigen Verfahrens geltend zu machen. Der Antrag kann innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme des rechtskräftigen Urteils (subjektive Frist), jedoch höchstens innerhalb von 5 Jahren (objektive Frist), eingereicht werden.


Der Überprüfungsantrag gegen das rechtskräftige Urteil kann – neben anderen Voraus­setzungen – nur unter Bezugnahme auf die sich auf die Sache auswirkende Rechtsverletzung sowie auf die Abweichung vom durch die Kurie veröffentlichten Beschluss bezüglich der Rechtsfrage eingereicht werden. Die Frist beträgt 45 Tage nach der Mitteilung des rechtskräftigen Beschlusses.


Durchschnittliche Verfahrensdauer

Gemäß der ungarischen Verfassung hat jeder das Recht, dass jegliche gegen ihn erhobenen Anklagen innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt werden.


Die angemessene Frist kann jedoch nicht genau definiert werden und hängt immer von den Umständen der Angelegenheit ab. Gemäß den statistischen Angaben werden 87,5 Prozent der Rechtsstreitigkeiten, d.h. die überwiegende Mehrheit, innerhalb eines Jahres nach dem Zugang bei der maßgeblichen Instanz beendet. Bei komplizierteren Angelegenheiten muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Verfahren ca. 2 bis 3 Jahre (oder mehr) bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung dauern.


Prozesskosten

Gemäß der ungarischen Prozessordnung (ZPO) sind die Prozesskosten alle bei den Parteien – während des Prozesses oder davor – im kausalen Zusammenhang mit der prozessualen Durchsetzung eines Rechts und zwangsläufig aufgetretenen Kosten, einschließlich des mit dem Erscheinen vor Gericht zwangsläufig entstandenen Verdienstausfalls zu entrichten. Nur solche Auslagen können als Prozesskosten betrachtet werden, die sich bei einer Partei tatsächlich ergeben. Das vorgehende Gericht ist berechtigt, die Notwendigkeit der Kosten zu beurteilen.


Das Gesetz enthält keine Auflistung über die als Prozesskosten durchsetzbaren Aufwendungen. In Fällen der zivilrechtlichen Prozesse ist die sich am häufigsten ergebende Auslage die Gerichtsgebühr, die bei der Eröffnung des Verfahrens durch den Kläger zu bezahlen ist. Die allgemeine Höhe der Gerichtsgebühr von Zivilverfahren erster Instanz beträgt 6 Prozent, doch mind. 15.000 Forint und höchstens 1.500.000 Forint. Das Gesetz bestimmt verschiedene Höhen der Gerichtsgebühr für besondere Fälle, z.B. beträgt die Gebühr im Vollstreckungsverfahren 1 Prozent, doch mind. 5.000 Forint und höchstens 350.000 Forint; Das Gesetz stellt noch genaue Gebühren für bestimmte Zivilverfahren fest, z.B. beträgt die Gebühr eines Ehescheidungsprozesses 30.000 Forint.


Weitere Kosten sind die Kosten des Rechtsanwalts; im Falle der Mitwirkung von Gutachtern deren Kosten; und die durch die Parteien bestätigten, relevanten Kosten (wie Reisekosten).


Kostentragungspflicht/Kostenerstattungspflicht

Grundsätzlich ist die Partei, die im Gerichtsverfahren etwas beweisen möchte, verpflichtet, die Kosten bezüglich des Beweises vorzustrecken. Das Gericht entscheidet über die Tragung der abgerechneten Prozesskosten in einem Beschluss zum Abschluss des Verfahrens, indem es die Höhe der Prozesskosten und die zu deren Erstattung verpflichtete Person bestimmt. Das Gericht verpflichtet die verpflichtete Person zur Zahlung der Kosten.


Nach der allgemeinen Regel muss die unterliegende Partei die Prozesskosten der obsiegenden Partei erstatten.


Anders ist es bei einem teilweisen Obsiegen, weil in dem Fall die Partei die Prozesskosten der Gegenpartei im Anteil ihres Unterliegens erstatten muss. Sollte die Differenz im Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen sowie die Differenz zwischen den zugunsten der Partei und der Gegenpartei festgelegten Prozesskosten nicht bedeutend sein, ist keine Partei zur Erstattung der Prozesskosten verpflichtet. (In dem Fall wird jede Partei die eigenen Kosten tragen.)


Wenn die Parteien einen gerichtlichen Vergleich geschlossen haben, erstattet die Partei gemäß Vereinbarung der Parteien die Prozesskosten der Gegenpartei. Mangels einer Vereinbarung werden die Prozesskosten der laut Vergleich obsiegenden Partei von der laut Vergleich unterliegenden Partei erstattet.


Die von der Erstattungspflicht nicht betroffenen Prozesskosten oder ein Teil davon gehen zu Lasten der Partei, bei der sie aufgetreten sind.


Gemäß den ungarischen Rechtsvorschriften können die Parteien unterschiedliche Kostenvergünstigungen (Prozesskostenhilfe) zur Unterstützung der Durchsetzung ihrer Rechte in Anspruch nehmen, sofern sie deren Bedingungen entsprechen. Die Arten von Kostenvergünstigungen sind:

  • sachliche und persönliche Kostenfreiheit,
  • das Recht auf sachliche und persönliche Kostenvormerkung (die Kosten müssen ohne Anzahlung, erst am Ende des Verfahrens bezahlt werden),
  • sachliche und persönliche Gebührenfreiheit,
  • das Recht auf sachliche Gebührenvormerkung,
  • ermäßigte Gebühr,
  • die Befreiung von der Vorstreckung oder
  • Zahlung des Honorars des Rechtsbeistandes.

Einstweiliger Rechtsschutz

Der Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Gewährung eines sofortigen Rechts­schutzes. Der allgemeine Zweck des einstweiligen Rechtschutzes ist es, den Rechtssuchenden unverzüglich zu schützen.


Der Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes kann sein:

  • den zwischen der Parteien bestehenden Zustand zu wahren,
  • die Vollstreckung einer nachfolgenden Entscheidung zu gewährleisten,
  • die vorübergehende Befriedigung des Anspruchs zu gewährleisten.

Im Laufe der Geltendmachung einer Forderung können die folgenden drei Arten des einstweiligen Rechtsschutzes in Frage kommen.


Die einstweilige Verfügung kann vor der Einreichung einer Klage oder im Laufe des Prozesses beantragt werden.


Das Gericht kann auf Antrag eine einstweilige Verfügung anordnen:

  • zur Verhinderung der Änderung des bestehenden Zustandes, wenn der ursprüngliche Zustand später nicht wiederhergestellt werden könnte,
  • zur Verhinderung der Vereitelung einer späteren Rechtsausübung des Antragstellers,
  • zur Abwendung des Eintretens eines dem Antragsteller unmittelbar drohenden Nachteils oder
  • aus einem anderen, besonders zu berücksichtigenden Grund.

Im Antrag auf einstweilige Verfügung sind die Tatsachen, die das Bestehen einer als Grund für die Anordnung einer einstweiligen Verfügung dienenden Bedingung begründen, darzulegen und glaubhaft zu machen.


Im Interesse des Rechtsschutzes des Berechtigten sind gemäß dem Gesetz u.a. die folgenden Entscheidungen ohne Rücksicht auf eine Berufung sofort für vollstreckbar zu erklären (vorläufige Vollstreckbarkeit):

  • Urteile zur Auferlegung von Unterhaltszahlungen, Renten und anderen ähnlichen wieder­kehrenden Leistungen,
  • Urteile zur Zahlung der durch den Beklagten anerkannten Forderungen,
  • Urteile zu einer finanziellen Leistung, die auf der in einer öffentlichen Urkunde oder in einer Privaturkunde mit voller Beweiskraft übernommenen Pflicht beruhen, wenn alle als deren Basis dienenden Umstände mit solchen Urkunden bewiesen wurden, und
  • keine finanzielle Belastung enthaltende Urteile, wenn dem Kläger aus der Verschiebung der Vollstreckung ein unangemessen großer oder schwer zu bestimmender Schaden entstehen würde und der Kläger eine entsprechende Sicherheit leistet.

Das Gericht kann in den obigen Fällen auf die Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit verzichten, wenn das für den Beklagten eine unangemessen größere Belastung darstellen würde als der Verzicht auf die vorläufige Vollstreckbarkeit für den Kläger.


Neben den obigen Rechtsmitteln kann der Berechtigte gemäß dem ungarischen Gesetz über die Zwangsvollstreckung auch eine sog. „Sicherungsmaßnahme” beantragen. Für die Anordnung einer Sicherungsmaßnahme muss der Antragsteller glaubhaft machen, dass die spätere Befriedigung der Forderung in Gefahr ist. Zudem muss die Forderung auf einem Beschluss beruhen, auf dessen Grundlage die Vollstreckung möglich wäre, dazu aber keine Möglichkeit besteht, da entweder der Beschluss noch nicht rechtskräftig ist, oder nicht vorläufig vollstreckt werden kann oder der Beschluss zwar rechtskräftig ist, die Erfüllungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist.


Anerkennung und Vollstreckung europäischer Titel und ausländischer Schiedssprüche

Gemäß den ungarischen Rechtvorschriften kann ein ausländischer Beschluss grundsätzlich aufgrund eines Gesetzes, eines internationalen Übereinkommens oder der Gegenseitigkeit in Ungarn vollstreckt werden.


Auf der Rechtsebene EU bestehen auch mehrere Verordnungen, die bei einer Vollstreckung des Beschlusses innerhalb der Europäischen Union anzuwenden sind.


Grundsätzlich werden die Bedingungen der Anerkennung und der Vollstreckung durch die EU-Verordnungen geregelt. Die Vorschriften enthalten jedoch nicht die Vorschriften des Vollstreckungsverfahrens selbst, da für das Vollstreckungsverfahren das Recht des Vollstreckungsstaates gilt. Die ungarischen Rechtsvorschriften sind ebenfalls mit Rücksicht auf die Bestimmungen der angegebenen Verordnung oder des internationalen Übereinkommens maßgebend.


Ein ausländischer Beschluss kann gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften nur dann Rechtsfolgen haben, wenn der Staat der den Beschluss vollstreckt ihn anerkennt. Infolge der Anerkennung hat der Beschluss dieselben wie ein Beschluss, der durch ein Gericht des Mitgliedstaates ergangen ist.


Die Voraussetzungen für die Anerkennung müssen durch das Gericht nicht geprüft werden, wenn aufgrund einer Rechtsnorm der EU festlegt wird, dass der Beschluss anerkannt und vollstreckt werden muss, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann. Z.B. verhindern die EU-Verordnungen Nr. 44/2001 und Nr. 805/2004 das Vollstreckbarerklärungsverfahren einer Entscheidung.


In der Praxis muss in Ungarn ein Vollstreckungstitel (z.B. ein Gerichtsurteil) sowie eine Bescheinigung gemäß Art. 53. Brüssel Ia-Verordnung vorgelegt werden, damit die Vollstreckung in Ungarn erreicht wird.


Ungarn ist seit 1962 auch Mitglied des New Yorker Übereinkommens, das auf ausländische Schiedssprüche anzuwenden ist.


Die am Abkommen teilnehmenden Staaten erkennen das Recht der Parteien zum Schiedsverfahren an und sämtliche Vertragsstaaten erkennen die durch ein Schiedsgericht gefassten Beschlüsse als verbindlich an. Sie vollstrecken diese gemäß den Verfahrensregeln, nach denen die Anerkennung und Durchführung des Schiedsgerichtbeschlusses gefordert wird. D.h., auch in dem Fall kann ein ausländischer Schiedsgerichtbeschluss in Ungarn nach ungarischem Recht und nach den ungarischen Verfahrensregelungen vollstreckt werden.

Deutschland Weltweit Search Menu