Vertriebsrechts in Mittel- und Osteuropa: Aktuelle Trends und Fragen

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veröffentlicht am 24. März 2021 | Lesedauer ca. 5 Minuten


Eine virtuelle Paneldiskussion mit den Niederlassungsleitern und Verantwortlichen von Rödl & Partner aus dem Baltikum, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn.


Die Corona-Pandemie hat Europa noch fest im Griff, auch wenn erste zaghafte Schritte einer Lockerung diskutiert werden. Die im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung der Virusinfektion ergriffenen weitreichenden Einschränkungen hinterlassen aber deutliche Spuren im Waren- und Dienstleistungsverkehr. In diesem Artikel diskutieren unsere Experten aus verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas, ob die Auswirkungen vielleicht Anzeichen einer nachhaltigen Änderung der Geschäftsprozesse sind.



Inwieweit hat die Corona-Pandemie das Einkaufsverhalten der Verbraucher beeinflusst?

Stefan Sieferer (Ungarn): In der sog. „ersten Welle“ der Pandemie im Frühjahr 2020 hat die ungarische Regierung zunächst mit einem harten Lockdown reagiert. Obwohl Lebensmittelhändler, Supermärkte und Apotheken zwar offen blieben, haben sehr viele ungarische Verbraucher ihre Einkäufe und Besorgungen mithilfe von Lieferservices erledigt. Dem haben auch große Supermärkte Rechnung getragen, wie z.B. Tesco, Auchan, Interspar, die ihren bestehenden Lieferservice weiter ausgebaut haben.

JUDr. Lucie Kiankova (Tschechien): Der Trend zum E-Commerce ist auch in Tschechien erkennbar, wobei sich hier mehr unabhängige Lieferketten (wie kosik.cz, rohlik.cz usw.) etabliert haben. Auch sonstige Retailer haben – soweit noch nicht vorhanden – den Auf- bzw. Ausbau ihrer E-Shop-Aktivitäten forciert, sodass gerade in Ballungszentren eine Belieferung bis an die Haustür sichergestellt ist.


Was bedeutet das für die Unternehmen, die Waren an Endkunden verkaufen?

Stefan Sieferer (Ungarn): Mit der zweiten Covid-Welle im Herbst 2020 hat sich der oben beschriebene Trend zu einem regelrechten Boom entwickelt. Weitere junge Liefer-Unternehmen kamen auf den Markt und begegnen der hohen Nachfrage durch Erweiterung des Fuhrparks und die weitere Neueinstellung von Fahrern.

JUDr. Lucie Kiankova (Tschechien): Auch in Tschechien ist diese Entwicklung spürbar, die zumindest zu einem gewissen Teil den Wegfall von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich kompensiert. Die damit einhergehende, fast vollständige Umstellung auf Kartenzahlung machte die vorher durchaus kontrovers geführte Diskussion über die Einführung der EET (elektronische Evidenz der Umsätze infolge einer Direktanbindung der Registrier­kassen an ein Erfassungssystem der Finanzämter) und damit verbundene Probleme praktisch obsolet.


Wie ist Ihre Einschätzung: Werden die Veränderungen nachhaltig sein oder werden die Verbraucher nach der Pandemie den Besuch im Laden wieder dem Online-Handel vorziehen?

Stefan Sieferer (Ungarn): Es ist schwer zu sagen, wie sich das Kaufverhalten in der Zeit nach der Pandemie entwickeln wird. Es ist festzustellen, dass der starke Online-Handel auch in der dritten Covid-Welle anhält. Eine gewisse Belebung des „Einkaufsbummels“ und des Ladenbesuchs verbunden mit einer Beratung vor Ort nach der Pandemie steht zu erwarten, ob allerdings im gleichen Umfang wie vorher bleibt abzuwarten.

JUDr. Lucie Kiankova (Tschechien): Auch in Tschechien ließ sich diese Entwicklung in dem Öffnungszeitraum im Sommer 2020 zwischen den Lockdown-Phasen erkennen. Ladengeschäfte auch in guten Lagen waren weniger frequentiert als vor dem Auftreten der Pandemie. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob der Trend zum internetbasierten Einkauf nicht zu einer Vermehrung von Cyberattacken führen wird. Falls die Unternehmen aufgrund der schnellen Entwicklung ihres Online-Geschäfts ihre Cybersecurity- und Datensicherheitsmaß­nahmen nicht mit der gleichen Sorgfalt vorantreiben und ernstnehmen, könnte ein gravierender Hackerangriff das Vertrauen in dieses Vertriebssystem erschüttern.

JUDr. Lucie Kiankova (Tschechien) und Maroš Tóth (Slowakei): Ergänzend zu dem Vorhergesagten, was sicherlich auch in der Slowakei gilt, erwarten wir allerdings auch eine Änderung im klassischen Retailgeschäft. Wir begegnen immer öfter dem Interesse an der Eröffnung der sog. „Pop-Up-Stores“, d.h., dass die Gesellschaften Geschäftsräume nur kurzfristig anmieten, um z.B. Saisonwaren schnell absetzen zu können. Eine nachhaltige Auswirkung auf das gesamte Vermietungsgeschäft im Retailbereich ist nicht ausgeschlossen. Da diese Stores sehr oft durch entsandte Mitarbeiter aus dem Ausland betrieben werden, sind dabei sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Themen unbedingt zu beachten. Gerade in diesem Bereich können landestypische Regelungen zur Scheinselbständigkeit übersehen werden und das, obwohl er in den letzten Jahren in den Fokus der Aufsichtsbehörden gerückt ist.


Sind denn auch Auswirklungen im B2B-Bereich erkennbar?

JUDr. Alice Kubova Bartkova (Tschechien) und Maroš Tóth (Slowakei): Neben allgemeinen Trends, die bereits vor der Pandemie sichtbar wurden – z.B. im Automotive-Bereich der Druck zu E-Mobilität – sehen wir aus den oben beschriebenen Tendenzen große Änderungen und Herausforderungen im Logistikbereich. Die Auswirkungen der Pandemie in Kombination mit den verschiedensten Regelungen und nationalen Restriktionen, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen, führen zu erheblichen Schwierigkeiten, Lieferketten im gewohnten Umfang und in vereinbarter Taktung aufrechtzuerhalten. Kurzfristig eingeführte Einreisekontrollen führen zu unkalkulierbaren Verspätungen, sodass das Just-In-Time–Prinzip kaum aufrecht zu erhalten ist.

Daher gilt es, sich den daraus resultierenden Haftungsfragen zu stellen. Eine Vielzahl von Fracht- und Logistikverträgen wird diesen letzten Entwicklungen, die auf ad-hoc Maßnahmen im Kampf gegen Corona zurückzuführen sind, kaum Rechnung tragen, da selbst in der ersten Welle die Grenzen für den Frachtverkehr weitestgehend offen blieben. Insofern ist in Logistikverträgen mit Rücksicht darauf auch künftig an eine gute und richtige Gestaltung der Vis Maior-Umstände besonderer Wert zu legen. Um eine Haftung für Nachfolge­schäden für eine verspätete Zustellung oder Lieferung nach Möglichkeit auszuschließen, können intensive Verhandlungen zwischen den Partnern erforderlich werden, um eine adäquate Risikoverteilung zu gewährleisten. Diese Fragen stellen sich umso dringlicher, wenn man auf die Außengrenzen der EU oder darüber hinaus schaut, wozu aufgrund des Brexits nunmehr auch das Vereinigte Königreich zählt.

JUDr. Alice Kubova Bartkova (Tschechien) und Maroš Tóth (Slowakei): Dabei bemerken wir auch, dass unsere Mandanten in Überlegungen eintreten, insbesondere in Asien beginnende Lieferketten zu verkürzen und ein alternatives Lieferantennetz in Osteuropa aufzubauen und solche Pläne teilweise bereits in die Tat umzusetzen.


Wird das geänderte Vertriebsverhalten Auswirkungen auf die vertrieblichen Organisationsstrukturen der Unternehmen haben?

Monika Behrens (Polen): Das lässt sich aus unserer Sicht gegenwärtig nicht eindeutig beantworten. Es wäre allerdings vorstellbar, dass der Ausbau des Online-Handels dazu führt, dass das bislang häufig verfolgte Konzept eines externen Vertriebspartners ersetzt wird durch den Aufbau einer eigenen, relativ schlanken ­­E‑Commerce basierten Vertriebsorganisation. Ggfs. bislang bei Vertriebspartnern vorgehaltene Lagebestände würden dann allerdings zu den erwähnten Logistikdienstleistern ausgelagert werden. Das würde zu einem weiteren Ausbau der in Mittel- und Osteuropa bereits vorhandenen Großlagerkapazitäten führen. In dem Zusammenhang werden auch wettbewerbsrechtliche Fragen und Themen einer marktbeherrschenden Stellung der Betreiber solcher Logistikzentren gerade bei der Verhandlung und dem Abschluss von Verträgen mit kleinen und mittleren Unternehmen, die die Dienstleistungen dieser Betreiber in Anspruch nehmen wollen, ein größeres Gewicht zukommen als bisher.

Tobias Kohler (Baltikum): Allerdings sind die damit verbundenen steuerlichen Fragen nicht zu unterschätzen. Von unseren Mandanten haben wir bereits mehrfach gehört, dass gerade Großunternehmen wie Amazon, die in Hinblick auf ihre Marketplace-Angebote auch Lagerkapazitäten zur Verfügung stellen, nicht klar differenzieren, wo denn die Ware tatsächlich gelagert wird, was bei teilweise mehreren Grenzüberschreitungen der Ware aus Gründen der Kapazitätsoptimierung zu erheblichen umsatzsteuerrechtlichen Fragen führen kann.


Aber auch die beim Aufbau einer eigenen Online–Vertriebsorganisation aufkommenden eventuellen steuerlichen Fragen in Hinblick auf die Schaffung einer Betriebsstätte und damit verbundenen rechtlichen Themen wie Registrierungserfordernisse oder gewerberechtliche Fragen sind nicht zu unterschätzen.


Fazit

Die Auswirkungen der Maßnahmen, die im Zuge der Covid-Pandemie zum Zwecke einer Begrenzung der Verbreitung des Virus angeordnet wurden, werden aus unserer Sicht auch nach einer Bewältigung der Krise zu spüren sein und zu einer nachhaltigen Änderung der Geschäftsprozesse führen. Eine noch stärkere Betonung des Online-Vertriebs wird zu Fragen in Hinblick auf die Marktmacht der großen Logistikdienstleister führen. Daneben werden Themen im Bereich der Datensicherheit und des Datenschutzes einschließlich der Weitergabe der Kundendaten noch erheblich an Bedeutung gewinnen.

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