Gastbeitrag von Prof. Dr. Marhold: „Mit kühlem Kopf durch Krisenzeiten”

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Europa – eine kostspielige und manchmal lästige Pflicht für uns in Deutschland, der wir uns nicht entziehen können. „Wegen unserer Vergangenheit”? Überall müssen wir helfen, oft finanziell. Sind wir damit nicht auch mal überfordert? Und könnten wir nicht allein besser dastehen? Heimliche, unheimliche Gedanken, die sich in der deutschen Öffentlichkeit seit der Griechenland-Krise Gehör verschaffen und die durch die Flüchtlingskrise noch einmal verstärkt werden. Wenn man allerdings das dumpfe Unbehagen an den gegenwärtigen Bedrohungen abschüttelt und kritisch analysiert, wo die Herausforderungen liegen, sieht die Lage anders aus.
 
Die Krisen häufen sich in unserer Zeit und in unserer Umgebung. Allein in diesem Jahr mussten wir unseren Blick so oft in unterschiedliche Richtungen lenken, dass wir ein mentales Schleudertrauma davontragen konnten: In den ersten Monaten brachten die Medien kaum etwas anderes als Griechenland unter der neuen Syriza-Regierung in unser Blickfeld. Wir schienen dazu verdammt, unser Geld in ein Fass ohne Boden zu versenken. Die Ukraine-Krise wuchs sich zur Bedrohung des Friedens in Europa aus, der Konflikt mit Russland warf uns zurück in die Zeiten des Kalten Krieges, mit all seinen Ängsten und Gefahren. Das dramatische Anschwellen der Flüchtlingskrise in der 2. Jahreshälfte scheint für viele eine Infragestellung ihrer Identität zu bedeuten und die Hintergründe dieser Krise – der Zusammenbruch der arabischen Staatenwelt und das Aufblühen islamistischer Terror-Regime – findet vor unserer Haustür statt. Im Stakkato der Krisen verlieren wir die längerfristigen Risiken und Herausforderungen, wie den Aufstieg Chinas zur Weltmacht, die Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen (z.B. das Klima) oder auch „nur” die Alterung unserer Gesellschaft aus den Augen.
 
Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass dies einige der herausragenden aktuellen Krisen und längerfristigen Herausforderungen sind (sicher kann man noch andere benennen) – gibt es wirklich jemanden, der behaupten würde, es handele sich dabei um Probleme von der Dimension eines europäischen Nationalstaates? Um Probleme, die Deutschland besser allein lösen könnte? Es braucht doch wirklich nur ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand für die Einsicht, dass die Lösungen mindestens europäisch sein müssen. Eigentlich müssten sie global sein – aber ebenso wie es realitätsfern ist zu meinen, Deutschland sei allein besser in der Lage, die großen Probleme der Gegenwart und Zukunft zu lösen, so ist es unrealistisch zu glauben, auf globaler Ebene würde genügend Einigkeit zu ihrer Lösung aufgebracht. Nein, die kontinentale, die europäische Dimension ist die realistische: Hier gehören wir zusammen, hier haben wir genug zusammen erlebt, über viele Jahrhunderte, um uns als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen. Hier bringen wir das Potenzial zusammen auf, die Krisen wirksam zu bekämpfen.
 
Die Frage, die wir uns stellen müssen, liegt demnach auf der Hand: Wie können und müssen wir die Europäische Union so gestalten, dass sie unsere Krisen lösen kann? Bisher versuchen die Regierungen der Mitgliedstaaten die Quadratur des Zirkels: Sie wollen die Lösungen auf europäischer Ebene – aber sie wollen ihre eigene „Souveränität” nicht aufgeben. Dieses ungelöste Dilemma führt zu im wahrsten Sinne des Wortes unendlichen Treffen des Europäischen Rates, zur Beschränkung der europäischen Politik auf den gemeinsamen Nenner, auf den sich alle einlassen wollen (und der ist natürlich der kleinste), zu Rücksichtnahmen auf unlautere Versprechen angesichts bevorstehender Wahlen (und in irgendeinem Mitgliedstaat stehen immer Wahlen bevor). Solange eine Lösung nur dann zustande kommt, wenn die Staats- und Regierungschefs von 28 Mitgliedstaaten sich einigen, wird es keine europäische Politik geben, die Krisen effizient lösen kann.
 
Die Einsicht ist unausweichlich, dass (1) unsere Krisen sich im nationalen Rahmen nicht lösen lassen, einfach weil sie selbst transnationale Dimensionen angenommen haben; dass (2) eine Krisenbewältigung im globalen Rahmen an mangelnder Gemeinsamkeit scheitert; dass (3) deshalb für uns die Europäische Union die Ebene ist, auf der wir die Krisen lösen müssen, mit denen wir konfrontiert sind und dass (4) diese EU nicht allein durch Kooperation von „souveränen” Nationalstaaten funktionieren kann.
 
Was also soll geschehen? Manchmal scheint es einfacher, absonderliche Ideen zu lancieren, die wegen ihrer Neuheit unverbraucht sind, als zu wiederholen, was einfach vernünftig ist, aber leider schon gesagt wurde: Europa muss sich zu einem föderalen Zusammenschluss bereitfinden, zu einem Bund. Welcher Gedanke liegt näher? Eine europäische Föderation ist kein Superstaat, die Sorge um den Verlust der eigenen Identität ist unbegründet (oder hat jemand Sorge um die Eigenständigkeit Bayerns in Deutschland?). Eine europäische Föderation würde es zum Prinzip erheben, dass jeder Staat die Probleme selbst löst, die er allein hat; dass dagegen die Probleme, die wir gemeinsam haben, auch gemeinsam gelöst werden. Die dazu – und nur dazu – nötige politische Macht muss auf Europa übertragen und dort demokratisch etabliert sowie kontrolliert werden. Wir wissen doch, wie das geht: durch Parlamente, Parteien, Wahlen, Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit usw.
 
Krisenzeiten sind Zeiten, in denen man – Schleudertrauma hin oder her – einen kühlen Kopf bewahren muss; Panik ist ein schlechter Ratgeber. Wenn die hier skizzierten Überlegungen, die doch so banal klingen, Denkfehler aufweisen, dann soll man sie benennen und besser argumentieren. Wenn sie nur Unbehagen auslösen, weil die Welt unserer Krisen die gewohnte Heimat der nationalstaatlichen Lösungen sprengt, beanspruchen sie dennoch und gegen dieses Unbehagen Geltung, mit dem Anspruch der Vernunft und des Mutes, der Wirklichkeit in die Augen zu schauen.
 
zuletzt aktualisiert am 16.12.2014

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Prof. Dr. Hartmut Marhold

Direktor für Forschung und Entwicklung, Centre International de Formation Européenne (CIFE)

+49 30 8600 840 12

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