Die umsatzsteuerliche Organschaft: Jüngste Ent­wick­lun­gen hin zur sog. Mehrwertsteuergruppe – Wird unsere deutsche Regelung vom EuGH gekippt?

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veröffentlicht am 25. Juli 2022 | Lesedauer ca. 6 Minuten

  

Derzeit hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Rechtsfolgen der umsatz­steuer­lichen Organschaft zu entscheiden. In den Vorlagefragen des BFH geht es im Ergebnis insbesondere um die Frage, ob die deutsche Regelung zur umsatz­steuer­lichen Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und zur Bestimmung des Organträgers als Steuerschulder unionsrechtskonform ist oder nicht. Sollte die nationale Sichtweise nicht unionsrechtskonform sein, sollte dies weitreichende Konsequenzen haben. Die bereits veröffentlichten Schlussanträge der Generalanwältin Medina in den Verfahren gehen sehr klar soweit, dass eine Neuregelung des nationalen deutschen Rechts not­wendig wäre, womit seit den Vorlagefragen des BFH und nun verstärkt unsere bishe­rige Empfehlung bestehen bleibt, nach entsprechender (betragsmäßiger) Durchsicht deutscher Organkreise umsatzsteuerliche Veranlagungen offen zu halten. 

 

     

  

Anhängige Verfahren vor dem EuGH in den Rechtssachen C-141/20 und C-269/20

Nachdem der EuGH sich nach einer Reihe von Entscheidungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der umsatzsteuerlichen Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG geäußert hat (z.B. zuletzt mit Urteil vom 5.4.2021 in der Rechtssache C-868/19 zur unionsrechtswidrigen Einschränkung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG auf bestimmte Personengesellschaften), ist nun vom EuGH zu den Rechtsfolgen des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zu entscheiden. 
 
Gemäß Artikel 11 MwStSystRL werden zivilrechtlich unabhängige Personen zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt. Dabei ist zu beachten, dass die „Behandlung als ein Steuerpflichtiger“ wohl im Sinne der Ent­ste­hung eines neuen Steuerpflichtigen zu verstehen ist. Die umsatzsteuerlich (neu) entstandene Mehrwert­steuer­gruppe hätte dann die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere Steuerpflichtige gemäß Artikel 9 MwStSystRL. Zwar werden auch im nationalen Recht Organgesellschaften und Organträger zusammengefasst. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass die Organgesellschaft(en) in das Unternehmen des Organträgers als des alleinigen Steuerpflichtigen eingegliedert wird/werden. Damit kommt es zu einer „Verschmelzung zur Auf­nah­me“ in den bestehenden Organträger.
 
Inwieweit die Rechtsfolgen des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG unionsrechtskonform sind, ist fraglich und wie gege­ben­en­falls die Tatsache der noch vor der EG-Richtlinie bestehenden deutschen Organschaftsregelung, die damals so bei Aufnahme in der Richtlinie inhaltlich dieser entsprechen und deckungsgleich sein sollte, Berück­sich­ti­gung bei der Beurteilung durch den EuGH findet. Der BFH hat dem EuGH konkret folgende Frage zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt (vgl. vom 7.5.2020, V R 40/19 mit EuGH, Rs. C-269/20 und vom 11.12.2019, XI R 16/18 mit EuGH, Rs. C-141/20): Ist Artikel 11 Abs. 1 MwStSystRL dahingehend auszulegen, dass es einem EU-Mitgliedstaat gestattet ist, anstelle der Mehrwertsteuergruppe (des Organkreises) ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (den Organ­träger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen? Es geht also um die Frage, wer Umsatzsteuerschuldner einer Gruppe/eines Organkreises ist. 
 
Die Senate des BFH (hier V. Senat und XI. Senat) beziehen sich in ihren Vorlagefragen u.a. auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH. So sei aus der EuGH-Rechtsprechung zu folgern, dass die Mehrwertsteuergruppe wohl selbst zwingend als „der Steuerpflichtige“ anzusehen ist. Es wird u.a. bereits auf das EuGH-Urteil in Rechtssache Skandia America verwiesen, nach dem die Mehrwertsteuergruppe, falls eine solche besteht, die Umsatzsteuer schuldet (vgl. EuGH vom 17.9.2014, Rs. C-7/13). Ebenfalls wird das EuGH-Urteil in Rechtssache Ampliscientifica und Amplifin (vgl. EuGH vom 22.5.2008, Rs. C-162/07) zitiert, wonach Artikel 11 MwStSystRL zwingend voraussetzt, dass deren nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht. Auch wird auf die Überlegungen der Europäischen Kommission hingewiesen, die als Rechtsfolge des Artikels 11 MwStSystRL eine fiktive „neu geschaffene“ Mehrwertsteuergruppe mit einem neu bzw. fiktiv geschaffenen Steuerpflichtigen annimmt. 
 
Laut EuGH-Vorlage des XI. Senats (anhängig unter Rs. C-141/20) ist es zudem fraglich, ob es einem EU-Mit­glied­staat gestattet ist, eine Person als nicht selbstständig anzusehen, wenn sie in der Weise finanziell, wirt­schaftlich und organisatorisch in das Unternehmen eines anderen Unternehmers (Organträgers) eingegliedert ist, dass der Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willens­bildung bei der Person verhindern kann. Für das nationale Recht ist nämlich für die Annahme einer umsatz­steuerlichen Organschaft i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG – jedenfalls nach Auffassung des V. Senats des BFH – erforderlich, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der (den) Organ­gesellschaft(en) als „untergeordneter Person“ besteht, während unionsrechtlich eine Mehrwertsteuergruppe nach Artikel 11 MwStSystRL bereits bei „enger Verbindung“ (auch „gleichrangig“) zwischen den Gruppen­mit­gliedern entsteht.
 
Zusammenfassend bleibt das Urteil des EuGH mit Spannung zu erwarten, insbesondere da die fiskalischen Auswirkungen enorm wären (betroffen wären wohl die Gesamtheit der Organträger i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr.2 UStG, die auskunftsgemäß – auch bei den derzeit offenen Veranlagungen/Veranlagungsjahren – ca. 10 Prozent des gesamten Umsatzsteueraufkommens in Deutschland verantworten; dazu kommt eine potentielle Rückab­wick­lung der gesamten Organkreise, also auch die Auswirkungen der Umsätze im Organkreis sowie die auf Ebene der einzelnen Organgesellschaften). 
 

Schlussanträge der Generalanwältin Medina

1. Wer ist der Organträger?

Nach den bereits vorliegenden Schlussanträgen der Generalanwältin Medina zu den Vorlagefragen (vom 13.1.2022 in Rs. C-141/20 sowie vom 27.1.2022 in Rs. C-269/20) ist die nationale Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht unionsrechtskonform. Nach Auffassung der Generalanwältin sei die Regelung offensichtlich zu restriktiv, da diese vorsieht, dass die Mehrwertsteuergruppe (und folglich der Organträger) der einzige Steuer­pflichtige ist, während Artikel 11 MwStSystRL gestattet durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbundene Personen, die einer Mehrwertsteuergruppe angehören, als einen einzigen Steuerpflichtigen zu behandeln. 
 
Zur Beantwortung der Vorlagefragen des BFH werden dem EuGH daher von der Generalanwältin folgende Antworten vorgeschlagen: 
 
„Art. 11 MwStSystRL gestattet es, eng miteinander verbundene Personen, die einer Mehrwertsteuergruppe an­ge­hören, für die Zwecke der Erfüllung der Mehrwertsteuerpflichten als einen einzigen Steuerpflichtigen anzusehen. Diese Bestimmung ist jedoch dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nur das die Gruppe beherrschende Mitglied – das über die Mehrheit der Stimmrechte und über eine Mehrheitsbeteiligung am beherrschten Unternehmen in der Gruppe der steuerpflichtigen Personen verfügt – unter Ausschluss der übrigen Mitglieder der Gruppe als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe und als Steuerpflichtigen dieser Gruppe bestimmt.“
 

2. Steuerbare Innenumsätze?

Neben diesen Aussagen der Generalanwältin zur Frage der Steuerschuldnerschaft des Organträgers enthalten die Schlussanträge jedoch noch folgende höchst brisante Punkte: 
 
Zum einen solle sich aus den unionsrechtlichen Bestimmungen ergeben, dass Steuerpflichtige, die einer Mehr­wertsteuergruppe angehören, weiterhin als Einzelpersonen steuerpflichtig seien. Die Steuerpflicht soll unab­hän­gig voneinander für jede einzelne Person (d.h. unabhängig von der Mehrwertsteuergruppe) weiter bestehen. Denn die Mehrwertsteuergruppe (bzw. in Deutschland umsatzsteuerliche Organschaft) diene ausschließlich der „administrativen“ Vereinfachung dergestalt, dass die Steuerbehörden eine einzige Umsatzsteuererklärung erhalten, in der die einzelnen Erklärungen der Steuerpflichtigen, die der Gruppe angehören, zusammengefasst (bzw. „konsolidiert“) werden.
 
Zum anderen, und an obigen Punkt anknüpfend, sollen dann die Umsätze zwischen Mitgliedern einer sog. Mehrwertsteuergruppe steuerbar und (sofern keine Steuerbefreiung greift) auch steuerpflichtig sein. Es gäbe somit nach Auffassung der Generalanwältin Medina keine sog. „nichtsteuerbaren Innenumsätze“ innerhalb der Mehrwertsteuergruppe/umsatzsteuerlichen Organschaft, was anhand eines Berechnungsbeispiels in den Schlussanträgen mehr als deutlich wird. 
 
Diese Aussagen der Generalanwältin sind kritisch zu sehen. Denn eine Mehrwertsteuergruppe nach Artikel 11 MwStSystRL stellt aus konzeptioneller Sicht nur einen einzigen Steuerpflichtigen dar und ist somit von dem laut Generalanwältin beispielhaft in den Schlussanträgen genannten Gruppenmodell zur Einführung eines Sys­tems vereinfachter Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer („Konsolidierungskreis“) abzugrenzen. Derartige Konsolidierungsgruppen im Umsatzsteuerrecht sind derzeit z.B. in Italien oder Spanien bereits bekannt. In Italien besteht neben der sog. Mehrwertsteuergruppe, die letztlich jeweils Artikel 11 MwStSystRL entspricht, z.B. eine sog. umsatzsteuerliche Konsolidierungsgruppe, die letztlich allein einer administrativen Vereinfachung der Erklärungspflichten und einem Cashflow-Effekt dient und dem Gruppenbild der Generalanwältin Medina wohl am nächsten kommen würde. Diesbezüglich bleibt es schlicht abzuwarten, ob der EuGH diese Ansicht der Generalanwältin tatsächlich teilen wird; würden statt nicht steuerbarer Umsätze steuerbare und ggf. steuer­pflich­tige im Organkreis vorliegen, wäre spätestens dies wohl ein „Ende der deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft“ auch unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise, da diese gerade bei Gruppen genutzt wird, in der einzelne Gesellschaften steuerfreie Ausgangsumsätze ohne Recht auf Vorsteuerabzug erbringen, womit bei „Innenumsätzen“ derzeit mangels konzerninterner Abrechnung mit gesonderter Umsatzsteuer kein Vorsteuer­aufwand besteht. 
 

Auswirkungen und Hinweise für die Praxis

Sofern der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwältin zu den Vorlagefragen folgt und zu dem Schluss kommt, dass die deutsche Organschaftsregelung nicht unionskonform ist, könnten sich Steuerpflichtige direkt auf das für sie dann ggf. günstigere Unionsrecht berufen. 
 
Letztlich würde eine derartige Entscheidung im Ergebnis jedoch eine gesetzliche Neuregelung der deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft notwendig machen. Die konkrete Ausgestaltung einer solchen Neuregelung der umsatzsteuerlichen Organschaft im nationalen Recht obliegt hierbei den Mitgliedstaaten, was jedoch keineswegs einen „Freibrief“ für den nationalen Gesetzgeber darstellt. Denn der EuGH hat im Jahr 2013 in der Rechtssache C-480/10 – Kommission/Schweden bereits klargestellt, dass Artikel 11 MwStSystRL keine schlich­te Ermächtigungsvorschrift darstellt, die vollständige Freiheit bei der Ausgestaltung der nationalen Regelung bietet, so dass der Gesetzgeber den Spielraum der Richtlinie z.B. nur teilweise ausnutzen könnte. Die Vollum­setzungspflicht des Artikel 11 MwStSystRL bedeutet, dass sich das mitgliedstaatliche Wahlrecht des Artikel 11 MwStSystRL allein auf die Einführung einer umsatzsteuerlichen Gruppe bezieht, während die tatbestandlichen Voraussetzungen der Mehrwertsteuergruppe im Falle eines Gebrauchmachens von Artikel 11 MwStSystRL nicht zur Disposition stehen.
 
Derzeit können (ganz praktisch gesehen) im Rahmen der Veranlagung nach einer genauen Analyse der mög­li­chen Auswirkungen (auch unter Einbezug diverser Gegeneffekte, Umsatzsteuer- und Vorsteuer der einzelnen Gesellschaften im Organkreis, der Vorsteuerquote im Organkreis unter Einbezug von Ausgangsumsätzen) betroffene Fälle mit Verweis auf das anhängige Verfahren beim EuGH offen gehalten werden. Gleichwohl ist – gerade mit Blick auf die doch diskussionswürdigen Aussagen der Generalanwältin Medina z.B. zu „steuerbaren Innenumsätzen“ – eine generelle Aussage zum empfohlenen Vorgehen über alle Fälle hinweg nicht möglich. Wir empfehlen daher nach Entscheidung des EuGH den Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Gege­ben­heiten (und etwaigen Gegeneffekte) zu beurteilen und ggf. entsprechend verfahrensrechtlich vorzugehen.  
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