Ausweitung der Mitbestimmung im europäischen Kontext

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Das Landgericht Frankfurt am Main hat entschieden, dass bei der Ermittlung der für die Anwendung der Regelungen über die Mitbestimmung maßgeblichen Unternehmensgröße im Ausland beschäftigte Mitarbeiter, insbesondere auch die ausländischer Konzernunternehmen, mit zu berücksichtigen sind. Wird das Urteil rechtskräftig, müssen viele Unternehmen mitbestimmte Aufsichtsräte einführen.
 
Ein Kleinaktionär eines börsennotierten Unternehmens hatte in einem sogenannten Statusverfahren die Feststellung beantragt, dass der zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestehende 18-köpfige Aufsichtsrat des Unternehmens falsch zusammengesetzt sei. Das Landgericht Frankfurt am Main folgte dem Antrag im Ergebnis und überraschte damit das Fachpublikum. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.
 
Nach geltendem deutschen Recht unterfallen Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Kommanditgesellschaften auf Aktien mit in der Regel mehr als 500 und bis zu 2.000 Arbeitnehmern dem Drittelbeteiligungsgesetz und haben einen Aufsichtsrat zu bilden, der zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern besteht. Sofern regelmäßig mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt werden, greift das Mitbestimmungsgesetz und es ist ein hälftig mit Arbeitnehmervertretern besetzter Aufsichtsrat zu bilden. Dabei werden nach dem Mitbestimmungsgesetz bei der Bestimmung der konkreten Anzahl von Arbeitnehmern die von den Konzernunternehmen angestellten Arbeitnehmer der Obergesellschaft zugerechnet.
 
Nach der bislang ergangenen Rechtsprechung, der ganz herrschenden Meinung in der Literatur sowie den Gesetzesmaterialien zum Mitbestimmungsgesetz, gilt diese Zurechnung jedoch aufgrund des völkerrechtlichen Territorialitätsprinzips nicht hinsichtlich der bei ausländischen Konzernunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer. Dieser seit langem praktizierten Gesetzesauslegung stellt sich nun das Landgericht Frankfurt am Main entgegen, freilich vor dem Hintergrund skeptischer Fachbeiträge in den vergangenen Jahren, die darauf hinweisen, dass das Europarecht einer Nichtberücksichtigung von Arbeitnehmern in Betrieben im EU-Ausland entgegenstehen könnte. Zweifelhaft war jedoch immer, ob der (vermeintliche) Verstoß gegen das Europarecht dazu führe, dass die deutsche Unternehmensmitbestimmung europarechtswidrig und damit unanwendbar ist oder die Vorschriften über die Unternehmensmitbestimmung stattdessen unionsrechtskonform auszulegen sind, so dass Arbeitnehmer in Betrieben im EU-Ausland ebenfalls berücksichtigt werden müssen.
 
Das Landgericht Frankfurt am Main hatte sich im zugrundeliegenden Fall mit der praktischen Umsetzung dieses wissenschaftlichen Streits zu beschäftigen. Im konkreten Verfahren ging es um die – nach Lesart des Unternehmens – nach Drittelbeteiligungsgesetz mitbestimmte Deutschen Börse AG, die in Deutschland weniger als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt, im EU-Ausland daneben aber weitere rund 1.800. Das Drittelbeteiligungsgesetz, so das Landgericht Frankfurt am Main, sei nicht wegen Europarechtswidrigkeit unanwendbar und das Verfahren auch nicht auszusetzen, um dem Europäischen Gerichtshof diese Frage vorzulegen. Vielmehr sei die Gesellschaft nicht nach Drittelbeteiligungsgesetz sondern nach Mitbestimmungsgesetz mitbestimmt.
 
Das Gericht wendet entgegen der bisher herrschenden Auffassung eine streng konzernrechtliche Betrachtung an. Danach sind die Arbeitnehmer aller Untergesellschaften, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Obergesellschaft und unter deren einheitlicher Leitung stehen, für die Zwecke der Bestimmung des Mitbestimmungsregimes und der Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu berücksichtigen Sie sind mit anderen Worten an der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu beteiligen und bei der Anzahl der für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes maßgeblichen Arbeitnehmer mitzurechnen. Der Wortlaut des Mitbestimmungsgesetzes nehme im Ausland Beschäftigte von der Mitbestimmung nicht aus. Auch enthielten weder das Mitbestimmungsgesetz noch das Drittelbeteiligungsgesetz eine diesbezügliche Regelung, sondern verwiesen hinsichtlich der zu berücksichtigenden Arbeitnehmer auf die Regelung über den Konzern in § 18 Abs. 1 Aktiengesetz, die unstreitig auch ausländische Unternehmen zum Konzern zähle. Es existiere kein eigener mitbestimmungsrechtlicher Konzernbegriff. Eine andere Behandlung der im EU-Ausland gelegenen Unternehmen würde zudem gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verstoßen.
 
Sehr wahrscheinlich wird die Entscheidung in die nächste Instanz gehen und schließlich beim Bundesgerichtshof überprüft werden. Bis zu dessen Entscheidung prägt nun eine große Unsicherheit die Anwendung der Gesetze über die unternehmerische Mitbestimmung. Gerade für viele mittelständische Unternehmen ist die Entscheidung bedeutsam, da bei ihnen eine Zurechnung der Arbeitnehmer ausländischer Betriebe und Konzernunternehmen erstmals zu einer Überschreitung der Grenzen der Unternehmensmitbestimmung führen und die Einrichtung von entsprechenden Aufsichtsratsgremien erforderlich machen könnte.
 
Wichtig ist es aus Unternehmenssicht nun vor allen Dingen, bereits jetzt über Strategien nachzudenken, welche die bisherige Mitbestimmungsstruktur konservieren. Das kann etwa durch Veränderung von Konzernstrukturen oder Unternehmensumwandlungen, insbesondere in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE), geschehen.
 
zuletzt aktualisiert am 01.06.2016

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Dr. Oliver Schmitt

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