BFH zur umsatzsteuerlichen Organschaft in Deutschland: Nach den Urteilen des EuGH zur Mehrwertsteuergruppe ist vor seinen weiteren Urteilen oder doch nicht?

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veröffentlicht am 5. April 2023 | Lesedauer ca. 6 Minuten

 

 
Update durch Nachfolgeentscheidungen des BFH (veröffentlicht am 23. März 2023)
 
 
Mit seinen am 23. März 2023 veröffentlichtem Urteil vom 18. Januar 2023 (Az. XI R 29/22 und Az. XI R 16/18) sowie einer erneuten Vorlage des BFH an den EuGH vom 26. Januar 2023 (Az. V R 20/22) hat nun der BFH die Entscheidungen des EuGH vom 1. Dezember 2022 zur Rechtssache C-141/20 (Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie) und EuGH vom 1. Dezember 2022 zur Rechtssache C-269/20 (Finanzamt T) (vgl. hierzu näher „Umsatzsteuerliche Organschaft: Der Knall durch die jüngsten Urteile des EuGH – Keine Mehr­wert­steuer­gruppe, aber Ende der nicht-steuerbaren Innenumsätze?“) auf das deutsche Recht und die dort vorliegenden Sachverhalten angewendet. 
 
 
Die Nachfolgeentscheidungen des BFH sind mit Blick auf ihre arbeitsteilige Interpretation grundsätzlich positiv zu sehen: Während der XI. Senat die Urteile des EuGH zur Steuerschuldnerschaft des Organträgers und zur finanziellen Eingliederung in das nationale Recht übersetzt, legt der V. Senat die Frage der Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen im Organkreis noch einmal und sehr explizit nun formuliert dem EuGH vor. Gleichwohl lassen die Aussagen zur Selbständigkeit der Mitglieder eines Organkreises und der Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen den Leser fragen, was dies für die Zukunft der umsatzsteuerlichen Organschaft und deren wirtschaftlichen Gehalt für Bedeutung hätte.
 
Wenig überraschend, da in gleicher Linie zur EuGH-Rechtsprechung, sieht der XI. Senat in seinem (Nachfolge-) Urteil vom 18. Januar 2023 die sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ergebende Steuerschuldnerschaft des Organ­trä­gers für die Umsätze der Organschaft als unionsrechtskonform an. Der Organträger kann zum einzigen Steuer­pflichtigen eines Organkreises bestimmt werden, da er in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitglie­dern dieser (Mehrwertsteuer-)Gruppe durchzusetzen und aufgrund § 73 AO keine Gefahr von Steuerverlusten droht.  
 
Zudem soll nach Auffassung des XI. Senats des BFH eine finanzielle Eingliederung ohne Stimmrechtsmehrheit vorliegen, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar nur über 50 Prozent der Stimmrechte verfügt, er aber eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt. Die schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung wird hier durch eine besonders stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung ausgeglichen. Klarstellend weist der Senat im Übrigen noch darauf hin, dass eine Organschaft zwischen Schwester­ge­sell­schaften (ohne Einbeziehung des gemeinsamen Gesellschafters) auch weiterhin nicht in Betracht kommt. Die Änderung der Rechtsprechung erfolgt in Abstimmung mit dem V. Senat.
 
In diesem Zusammenhang und damit auch eher aus dem Zusammenhang gegriffen hält der XI. Senat fest, dass er in Interpretation der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie von einer Selbständigkeit der Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe ausgeht und daher auch im vorliegenden Streitfall die Organ­ge­sell­schaft dem Grunde nach selbständig sein soll. Konkrete Aussagen zur Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen werden vom XI. Senat jedoch nicht getroffen. Diese für die „Zukunft“ und die wirtschaftliche Bedeutung der umsatzsteuerlichen Organschaft in der Praxis entscheidende Fragestellung werden dem V. Senat zur Beant­wor­tung überlassen, der mit Blick auf die Entscheidungserheblichkeit explizit dahingehende Fragen an den EuGH zur Vorabentscheidung vorlegt: 
 
Zum einen soll geklärt werden, ob die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (Art 11 MwStSystRL) dazu führt, dass entgeltliche Leis­tungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen. Zum anderen wird gefragt, ob entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen jedenfalls dann steuerbar wären, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht. 
 
In seiner EuGH-Vorlage macht der V. Senat des BFH dann recht deutlich, dass er in Abkehr von der bislang ständigen Rechtsprechung – und dies ist für die Praxis für Organschaften und Konzernstrukturen mit Organ­kreisen von immenser Bedeutung – grundsätzlich von einer Steuerbarkeit von sog. Innenumsätzen, also Umsätzen/Leistungen zwischen den Gesellschaften im Organkreis ausgeht. 
 
Ausgangspunkt der erneuten Vorlage an den EuGH ist dessen Urteil in Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie und die dortigen Aussagen zur Selbständigkeit der Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe, die laut BFH auf eine Steuerbarkeit von solchen Innenumsätzen deuten. Unter Bezugnahme auf die Historie des Art. 11 MwStSystRL und deren Regelungszweck „Verwaltungsvereinfachung“ führt der BFH dann Argumente für die Steuerbarkeit von Innenumsätzen an. Insbesondere ist für den V. Senat fraglich, ob eine Norm zur Verwal­tungs­vereinfachung – wie Art. 11 MwStSystRL eingeordnet wurde – auch materiell-rechtliche Wirkung entfalten kann und dann in bestimmten Fällen zu Steuerverlusten führen darf. Zumindest für Fälle, in denen das leistungs­empfangende Mitglied der Mehrwertsteuergruppe nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigt ist, soll dies aufgrund der Gefahr von Steuerverlusten wohl zu verneinen sein.
 
Mit Blick auf die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage wäre jedoch eine ausgewogenere Argumentation des BFH wünschenswert. So verwundert es, dass die EuGH-Vorlage die entscheidenden Aussagen des Urteils in Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie zur Selbständigkeit der Mitglieder einer Mehrwert­steuer­gruppe nicht erwähnt. Dabei ist die Selbständigkeit oder eben fehlende Selbständigkeit nach unserem Verständnis der EuGH-Ausführungen bisher im ersten Schritt gerade der Dreh- und Angelpunkt für das Vorliegen von steuerbaren oder nicht-steuerbaren Innenumsätzen. Beim Lesen der Vorlagefragen an den EuGH wird fast eine Selbständigkeit der Gruppenmitglieder wohl angenommen.
 
Die Mehrwertsteuergruppe wurde bislang unstrittig nach dem Wortlaut des Art. 11 MwStSystRL und nach der bisherigen Interpretation des EuGH und Aussagen der Generalanwälte als ein Steuerpflichtiger behandelt. In diesem Sinne entfaltet Art. 11 MwStSystRL materiell-rechtliche Wirkung und ist eben nicht als reine (verfahrens­rechtliche) Vorschrift zur Verwaltungsvereinfachung gedacht, was sich im Übrigen bereits an der systematischen Einordnung in der MwStSystRL zeigt. Ob und inwieweit der EuGH dies ebenfalls so sehen wird und sich dazu auch explizit äußert, bleibt nun wiederum weiter abzuwarten.
 

Auswirkungen und Hinweise auf die Praxis durch Nachfolgeentscheidungen des BFH

Die Nachfolgeentscheidungen der zwei Senate sind dringlich auf ihre weiteren Auswirkungen in der Praxis zum gegenwärtigen Stand differenziert zu bewerten, wie dies bereits bisher von uns empfohlen wurde: 
 
Das Urteil des XI. Senat des BFH folgt der EuGH-Rechtsprechung. Insbesondere die sich hieraus ergebende letztliche Klarheit für den Rechtsanwender in Bezug auf die Unionsrechtskonformität der Steuer­schuld­ner­schaft des Organträgers sind positiv zu beurteilen. Soweit ist festzuhalten: „Alles bleibt bei der Frage, wer in Deutschland Organträger sein kann, beim Alten“, da auch davon auszugehen ist, dass die Finanzverwaltung keinen Änderungsbedarf in Bezug auf Bestimmung des Steuerschuldners sieht. 
 
Im Hinblick auf die finanzielle Eingliederung schränkt der BFH die eher generellen Aussagen des EuGH stark auf den im Sachverhalt vorherrschenden sehr eingeschränkten Fall zugeschnitten, wenn der Gesellschafter zwar nur über 50 Prozent der Stimmrechte verfügt, er aber seinen Willen dadurch durchsetzen kann, dass er eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt. Gleichwohl ist auch hier diese Klarstellung durch eine mit dem V. Senat abgestimmte Änderung der Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung positiv zu beurteilen, bietet sie doch Orientierung in derartigen Fällen. Gleichwohl heißt dies aber auch, dass für die finanzielle Eingliederung und die Frage einer etwaigen Unionsrechtswidrigkeit des in Deutschland bestehenden Über- und Unterordnungsverhältnisses keine Änderung der bestehenden Rechtslage zu erwarten ist. Grundsätzlich ändert sich – außer in den dem Urteil zugrundeliegenden Fallkonstellationen – nichts an der notwendigen Stimmrechtsmehrheit für das Vorliegen einer finanziellen Eingliederung. Eine reine Mehrheitsbeteiligung ist, wie nach bisheriger Auffassung in Rechtsprechung und der Finanzverwaltung, hingegen nicht ausreichend. Ein Handlungsbedarf ist in der Praxis daher für die meisten Fälle erst einmal nicht angezeigt.
 
Gleichwohl besteht – wie wir bereits zur Anmerkung der EuGH-Rechtsprechung selbst hingewiesen haben – trotz Bestätigung des nach deutschem Recht festgelegten Organträgers bedeutende Unsicherheit und zugleich Tragweite auf das grundsätzliche Schicksal der umsatzsteuerlichen Organschaft. Die Vorlagefrage des V. Senats des BFH an den EuGH könnte nun deren Zukunft in Deutschland entscheiden, sofern der EuGH der konkret in die Richtung einer Steuerbarkeit von Innenumsätzen gehenden Argumentation des BFH folgt.
 
Für die Praxis muss abgewartet werden, wie zu den Umsätzen zwischen den verbundenen Unternehmen im umsatzsteuerlichen Organkreis beurteilt werden; sofern diese steuerbar sein sollen, entsteht ggf. Umsatzsteuer und ist gesondert in Rechnung zu stellen und ein Vorsteuerabzug möglich für einen vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfänger. 
 
Bis dahin empfehlen wir – insbesondere für Branchen, die vorsteuerschädliche Ausgangsumsätze erbringen (z.B. Banken, Versicherungen, Gesundheitswesen) – im Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Gegeben­heiten bereits heute grob vorbeugend sich ein Bild betragsmäßig über sog. Innenleistungen im Konzern zu verschaffen, um gezielt unternehmerische Entscheidungen und Strukturierungen der Leistungsbeziehungen infolge der potenziell anstehenden Rechtsprechung, um auf kommende Änderungen vorbereitet zu sein. Eben­falls ist natürlich noch die weitere – noch nicht umgesetzte – Rechtsprechung zum Einbezug von Personen­ge­sell­schaften bei der umsatzsteuerlichen Organschaft im Blick zu behalten, wonach Personengesellschaften unabhängig von ihrer Ausgestaltung, wie z.B. die kapitalistisch strukturierte Personengesellschaft (vgl. hierzu noch Abschn. 2.8 Abs. 5a UStAE) unionsrechtlich als taugliche Organgesellschaften zu werten sind.
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