Nachhaltigkeitsinitiative versus Kartell – Oder ob das Ziel die Mittel heiligt

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veröffentlicht am 22. Februar 2023 | Lesedauer ca. 4 Minuten


Re-buy, re-use, refurbish – einst als schlagkräftiger Wettbewerbsvorteil vermarktet, ist nachhaltiges Wirtschaften heute zunehmend gesetzlich verankert. Vielschichtige Nachhaltigkeitsziele rund um ESG und CSR zwingen Unternehmen, gängige Rohstoffe, altbewährte Herstellungsverfahren und bestehende Lieferwege zu hinterfragen. Der Druck mitzuhalten, wächst nahezu täglich.



Mithalten, geschweige denn innovativ sein, kann aber nur, wer über ausreichend Informationen verfügt. Ini­ti­ati­ven, wie die des digitalen Produktpasses, versuchen immer mehr Transparenz entlang der Wert­schöpfungs­kette zu schaffen und so – der Digitalisierung sei Dank – sämtliche Daten über den gesamten Lebenszyklus eines Pro­dukts von der Rohstoffgewinnung bis hin zum Recyclingvorgang „sichtbar“ zu machen. Außerhalb der ei­ge­nen Lieferkette, insbesondere auf horizontaler Ebene unter Wettbewerbern, ist ein solcher In­for­ma­tions­aus­tausch jedoch durch geltendes Kartellrecht nach wie vor stark beschränkt.

Der Entwurf der neuen Horizontal-Leitlinien zur Anwendbarkeit des Kartellverbots auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (2022/C 164/01), beinhaltet nun erstmals ein gesondertes Kapitel zu Nachhaltig­keitsvereinbarungen und soll eine Orientierungshilfe dafür bieten, wie Vereinbarungen unter Wettbewerbern zu bewerten sind, wenn sie Nachhaltigkeitsziele verfolgen


Leitlinien-Entwurf der Kommission

Der Entwurf erfasst jede Art von horizontaler Kooperationsvereinbarung, die ein oder mehrere Nachhaltig­keits­zie­le verfolgt, unabhängig von der Form der Zusammenarbeit. Beispielhaft genannt werden Vereinbarungen unter Wettbewerbern, nicht nachhaltige Produkte oder Verfahren auslaufen zu lassen, vom Markt zu nehmen oder durch nachhaltige zu ersetzen, Verpackungsmaterialien zu harmonisieren, um die Wiederverwertung zu erleichtern, oder nur solche Produktionsmittel zu verwenden, die auf nachhaltige Weise hergestellt werden.

Die Kommission erkennt ausdrücklich an, dass horizontale Zusammenarbeit erheblich zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann, indem Risiken geteilt, Kosten gespart, Investitionen gesteigert, Know-how gebündelt, Pro­dukt­qua­li­tät verbessert und Innovationen beschleunigt werden. Ebenso könnten Engpässe und Unterbrechungen in den Lieferketten behoben oder die Abhängigkeit von bestimmten Produkten, Dienstleistungen oder Tech­no­lo­gien verringert und ein „widerstandsfähiger Binnenmarkt“ geschaffen werden. Wie wichtig gerade Letzteres ist, haben uns in der jüngsten Vergangenheit die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg eindrucksvoll ver­deut­licht.


Gefahren und Grenzen der Zusammenarbeit

Eine solche Zusammenarbeit birgt jedoch immer auch das Risiko von Absprachen, Preiskoordinierung, Markt­ab­schottung oder Kundenaufteilungen. Seit jeher besagt daher der wichtigste Grundsatz des Kartellrechts, dass jedes Unternehmen sein wirtschaftliches Verhalten auf dem relevanten Markt selbst bestimmen muss. Dieser Grundsatz hängt sowohl in der kartellrechtlichen Rechtsprechung als auch in der Behördenpraxis sehr hoch, ist er es doch, der den freien Wettbewerb erst ermöglicht. Insofern wird der bloße Austausch von In­for­ma­tio­nen schon als Absprache gewertet, wenn er dazu geeignet ist, die strategische Ungewissheit über das künftige Verhalten eines oder mehrerer Wettbewerber auf dem Markt zu verringern.


Freistellung vom Kartellverbot

Wird eine Nachhaltigkeitsvereinbarung als Wettbewerbsbeschränkung eingestuft, ist sie demnach gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV nur dann vom Kartellverbot freigestellt, wenn kumulativ vier Voraussetzungen erfüllt sind:

  • die Vereinbarung trägt zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder Förderung des tech­ni­schen und wirtschaftlichen Fortschritts bei,
  • sie enthält keine Beschränkungen, die für die Erzielung der durch die Vereinbarung bewirkten Vorteile nicht unerlässlich sind,
  • sie eröffnet den Parteien nicht die Möglichkeit, für einen wesentlichen Teil der betroffenen Produkte den Wettbewerb auszuschalten und
  • sie sieht vor, dass die Verbraucher einen angemessenen Anteil an den hieraus erzielten Vorteilen erhalten.


Massive Kritik führt zur Verschiebung der Veröffentlichung

Eigentlich hätten die neuen Horizontal-Leitlinien zum 1. Januar 2023 in Kraft treten sollen. Aufgrund massiver Kritik wurde die Veröffentlichung ihrer finalen Fassung auf das erste Quartal 2023 verschoben. So wurden insbesondere Stimmen aus der Industrie laut, die der EU vorwarfen, die oben geschilderte Abhängigkeit von Russland und China durch die harte Anwendung des gegenwärtigen Wettbewerbsgedankens überhaupt erst geschaffen zu haben. Daran ändere auch der neue Entwurf nichts, da das ebenfalls überarbeitete Kapitel zum Informationsaustausch (Kapitel 6) jegliche Form der Zusammenarbeit von Wettbewerbern faktisch unmöglich mache. Als kritisch gelte danach nämlich insbesondere der Austausch über die Preisgestaltung und die Preis­ab­sich­ten, die derzeitigen und künftigen Produktionskapazitäten, die aktuelle Situation eines Unterneh­mens und die geplante Geschäftsstrategie sowie über zukünftige, für den Verbraucher relevante Pro­dukt­ei­gen­schaf­ten.

Gerade der Austausch über die Finanzierung und Bepreisung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen wird sich aber nicht gänzlich ausschließen lassen bzw. wird früher oder später immer Thema einer solchen Kooperation werden. Kritik gab es ferner für die umfangreichen Nachweispflichten. Effizienzgewinne der Zusammenarbeit können nicht einfach angenommen werden, sie müssen objektiv, konkret und überprüfbar sein. Die Nie­der­lan­de und Österreich hatten hier zuletzt eine Ver­mu­tungs­wir­kung vorgesehen.

Gleiches gilt für die Hürde der sog. Unerlässlichkeit. Wenn Unternehmen bereits nach europäischem oder nationalem Recht zur Einhaltung konkreter Nachhaltigkeitsziele verpflichtet sind, können Kooperationsverein­barungen nicht als unerlässlich für die Erreichung des Ziels angesehen werden, weil der Gesetzgeber bereits entschieden hat, dass jedes Unternehmen das Ziel für sich allein erreichen muss. Kooperationen können dem­nach nur dann unerlässlich sein, wenn das Ziel gemeinsam z.B. auf eine kosteneffizientere Weise erreicht wer­den kann (siehe Rn. 583). Über Preise und Kosten dürfen sich die Unternehmen aber ja gerade nicht aus­tau­schen, so dass dieser Passus in den Leitlinien an das klassische „Henne-Ei“-Dilemma erinnert.

Auch sind die im Entwurf genannten Beispiele sehr auf Konsumgüter zugeschnitten. Hinweise für die Industrie und den B2B-Bereich fehlen. Erhebliche Klimaschutzeffekte werden sich aber oft auf den vorgelagerten Pro­duk­tions­stu­fen ergeben, von denen der Verbraucher gar nichts erfährt.

Das Hauptproblem besteht schließlich nach wie vor darin, dass die Leitlinien sehr vage formuliert sind und eine konkrete Checkliste vermissen lassen, welche besonders für den Mittelstand wichtig wäre. Die Grenze zwischen zulässig und unzulässig erscheint fließend. Oft wird auch die hinzugezogene Rechtsberatung sagen (müssen), dass sich das geplante Vorhaben in einem Graubereich bewegt, oft wird man die Konstellation erst im Nachhinein final bewerten können. Diese Unsicherheit und das Risiko von Bußgeldern, Schadensersatz und Imageverlusten führt nicht selten dazu, dass Unternehmen von Kooperationen Abstand nehmen und so mög­licher­wei­se viel Potential für nachhaltige Lösungen unausgeschöpft bleibt.


Fazit

Man wird abwarten müssen, wie die finale Fassung der neuen Horizontal-Leitlinien ausfällt. Noch kann die Kommission im Zielkonflikt zwischen Selbstbestimmtheit, freiem Wettbewerb und Schaffung von Syn­ergie­ef­fek­ten nachbessern.

Daneben wird es aber auch viele Möglichkeiten für Kooperationen geben, die keine Bedenken auslösen, wie beispielsweise Vereinbarungen, die keine Auswirkungen auf Wettbewerbsparameter wie Preis, Menge oder Qualität haben. Auch Intercompany-Vereinbarungen fallen in der Regel nicht unter das Kartellverbot. Wett­be­wer­ber können sich daher bemühen, den Ruf der Branche als umweltbewusst zu verbessern und zu diesem Zweck beispielsweise Maßnahmen zur Beseitigung von Einwegplastik in ihren Geschäftsräumen, zur Einhaltung bestimmter Raumtemperaturen in Gebäuden oder zur Begrenzung der Anzahl von Drucksachen pro Tag ver­ein­ba­ren.


Gleiches gilt für Vereinbarungen über die Einrichtung einer Datenbank mit Informationen über Anbieter, die über nachhaltige Wertschöpfungsketten verfügen, nachhaltige Produktionsverfahren anwenden und nach­hal­ti­ge Inputs liefern, oder über Händler, die Produkte auf nachhaltige Weise verkaufen, solange die Parteien nicht verpflichtet sind, bei diesen Anbietern zu kaufen oder an diese Händler zu verkaufen.

Schließlich sind Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern über die Organisation von branchenweiten Sen­si­bi­li­sie­rungs­kam­pa­gnen oder von Kampagnen zur Sensibilisierung der Kunden für den ökologischen Fußabdruck ihres Konsums, ohne dass solche Kampagnen auf eine gemeinsame Werbung für bestimmte Produkte hi­naus­lau­fen, im Allgemeinen nicht geeignet, wettbewerbsrechtliche Bedenken auszulösen.

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