Kartellrechtliche Leitplanken für den vertikalen Vertrieb: Neufassung der EU-­Grup­pen­frei­stel­lungs­ver­ord­nung

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veröffentlicht am 8. Dezember 2021 | Lesedauer ca. 5 Minuten


Hersteller verkaufen ihre Produkte zumeist nicht direkt an Endkunden, sondern ver­treiben sie über Händler (sog. „vertikaler Vertrieb”). Das ist für die beteiligten Unter­nehmen mit erheblichen kartellrechtlichen Risiken verbunden.


Die wichtigsten Leitplanken zu deren Vermeidung sind in der Gruppenfreistellungs­verordnung vertikaler Vertrieb („Vertikal-GVO”) geregelt, die am 31. Mai 2022 auslaufen wird. Der bereits vorliegende Entwurf einer Nachfolgeregelung enthält eine Reihe von An­pas­sungen, die modernen Vertriebsformen besser Rechnung tragen sollen.



Einleitung

Hersteller und sonstige B2B-Anbieter von Produkten (Großhändler, Importeure, etc.) bieten ihre Produkte in aller Regel den Endkunden nicht direkt an, sondern vertreiben sie über Händler. Häufig unterhalten sie feste Vertragshändlernetze oder komplexe Strukturen wie selektiven Vertrieb, Alleinvertrieb oder Fran­chise-­Systeme.

 
Es handelt sich um sog. „vertikale Vertriebs­be­zieh­ungen”. Um solche effizient zu gestalten, besteht bei den Anbietern regelmäßig der Wunsch, den Händlern auf der nachgelagerten Vertriebsstufe verbindliche Vorgaben für den Weitervertrieb aufzuerlegen, sei es zur Art und Weise, wie die Produkte anzubieten und zu bewerben sind, den zulässigen Vertriebsweg, das Vertriebsgebiet oder den Kundenkreis.

So förderlich das für die Qualität des Vertriebs auch sein kann, so groß ist umgekehrt die Gefahr schädlicher Auswirkungen auf den Wettbewerb insgesamt. Typische Beispiele dafür sind Einschränkungen der Händler beim Online-Vertrieb oder bei der freien Festsetzung ihrer Verkaufspreise. Solche Vorgaben bergen v.a. die Gefahr, die Preise zu Lasten der Endabnehmer künstlich hochzuhalten und somit den Wettbewerb insgesamt zu schwächen. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen unterliegen dem kartellrechtlichen Verbot gemäß Art. 101 AUEV, § 1 GWB. Andererseits ist funktionierender Wettbewerb ohne vertikale Vertriebsbeziehungen nicht vorstellbar. Um das Spannungsfeld auszugleichen, hat der Gesetzgeber vertikale Vertriebsbeziehungen vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen insgesamt freigestellt, wenn keines der beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von mehr als 30 Prozent hat und die Freistellung an weitere strenge Voraussetzungen geknüpft.


Für den Europäischen Binnenmarkt ist das seit dem 1. Juni 2010 in der Gruppenfreistellungsverordnung vertikaler Vertrieb (VO (EU) 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010) geregelt („Vertikal-GVO”). Da sie am 31. Mai 2022 auslaufen wird, hat der europäische Gesetzgeber eine Nachfolgeregelung auf den Weg gebracht. Dadurch soll insbesondere den Anforderungen Rechnung getragen werden, die sich aus der Entstehung moderner Vertriebsformen ergeben haben.

Von den zahlreichen Änderungsvorschlägen der Kommission möchten wir nachstehend einige besonders wichtige Änderungen herausgreifen und näher beleuchten.


Dualer Vertrieb

Wesentliche Änderungen enthält der Entwurf der neuen GVO bei dualen Vertriebssystemen. In vielen Branchen bauen sich Hersteller, aber auch Großhändler oder Importeure, neben dem klassischen Vertrieb über Ver­triebsmittler zunehmend als weiteres Standbein einen Direktvertrieb auf (dualer Vertrieb). Daher ist zu erwarten, dass die Änderungen in dem Bereich von besonderer Relevanz sind. Problematisch beim dualen Vertrieb ist, dass der Anbieter als Lieferant des Vertriebsmittlers regelmäßig Informationen über dessen Einkauf und Vertrieb erlangt, die er dann wiederum auf Einzelhandelsebene im Wettbewerb mit dem Vertriebsmittler einsetzen kann.

Die geltende GVO stellt in Art. 2 Abs. 4 den dualen Vertrieb dann vom Kartellverbot frei, wenn die Wettbe­werber eine nicht gegenseitige vertikale Vereinbarung treffen und

  • der Anbieter zugleich Hersteller und Händler von Waren ist, der Abnehmer dagegen Händler, jedoch kein Wettbewerber auf der Herstellungsebene; oder
  • der Anbieter ein auf mehreren Handelsstufen tätiger Dienstleister ist, der Abnehmer dagegen Waren oder Dienstleistungen auf der Einzelhandelsstufe anbietet und auf der Handelsstufe, auf der er die Vertrags­dienstleistungen bezieht, kein Wettbewerber ist.


Die Entwurfsfassung der neuen GVO hält an dieser Systematik fest, knüpft die Freistellung aber an weitere Voraussetzungen. So ist auf einer ersten Stufe erforderlich, dass der gemeinsame Marktanteil der Wettbe­werber nicht mehr als 10 Prozent beträgt. Überschreiten sie die Schwelle, so ist eine Freistellung immer noch möglich, wenn keiner der Wettbewerber einen Marktanteil von mehr als 30 Prozent hat. Der zwischen den Wettbewerbern erfolgende Informationsaustausch muss dann aber zusätzlich mit den Vorschriften über horizontale Vereinbarungen In Einklang zu bringen sein.

Die Freistellung nach Art. 2 Abs. 4 entfällt immer dann, wenn die beteiligten Unternehmen auch als Hersteller, Großhändler oder Importeuer miteinander im Wettbewerb stehen oder wenn die Vereinbarung eine Beschrän­kung des Wettbewerbs bezweckt.

Gänzlich ausgenommen von der Freistellung sind auch duale Vertriebsmodelle, bei denen ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten (z.B. Handels- oder Buchungsplattformen) auch Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen verkauft und für ein solches dann zugleich Online-Vermittlungsdienste erbringt (sog. „hybride Online-Vermittlungsdienste”).


Alleinvertrieb

Viel Beachtung schenkt die Entwurfsfassung Alleinvertriebssystemen, denen nun deutlich mehr Gestaltungs­spielraum gegeben wird.

Das gilt etwa dann, wenn der Anbieter eines Produkts ein Gebiet nicht nur einem, sondern mehreren Vertriebs­partnern exklusiv zuweist. Nach der neuen GVO darf der Anbieter seinen Vertriebsmittlern in anderen Gebieten den aktiven Vertrieb in das exklusiv vergebene Gebiet untersagen, ohne Letzteres an nur einen Vertriebsmittler alleine vergeben zu müssen. Man will damit den exklusiven Vertriebsmittlern einen gewissen Investitionsschutz zukommen lassen, indem man ihnen die Möglichkeit gibt, sich ein bestimmtes Geschäftsvolumen und eine gewisse Marge zu sichern.

Zu beachten ist allerdings, dass die neue GVO nicht grenzenlos eine Freistellung gewährt. Vielmehr ist die Vergabe nach dem Wortlaut der GVO nur an eine „begrenzte Zahl von Abnehmern” zulässig. Einem Missbrauch des Alleinvertriebs zum Zwecke einer Wettbewerbsabschottung soll damit ein Riegel vorgeschoben werden. Klare Grenzen benennt die GVO aber nicht, sodass von Fall zu Fall abzuwägen sein wird, wie viele Vertriebs­mittler in einem Alleinvertriebsgebiet zulässigerweise eingebunden werden können.


Plattformverbote

Anknüpfend an das sog. „Coty-Urteil” des EuGH (EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2017, Az. C-230/16) sehen die Leitlinien zur neuen Vertikal-GVO vor, dass direkte wie auch indirekte Verbote des Verkaufs auf Online-Marktplätzen grundsätzlich vom Kartellvorbot freigestellt werden können, da dabei lediglich Vertriebs­modalitäten und nicht ganze Vertriebskanäle eingeschränkt werden. Etwas anderes gilt aber dann, wenn derartige Verbote zur Folge hätten, dass dem Vertragspartner der Onlinevertrieb faktisch gänzlich untersagt wird.

Hervorzuheben ist weiterhin, dass sich die Freistellungsmöglichkeit nicht nur auf Luxusgüter – wie im Fall Coty – bezieht. Die Leitlinien zur neuen Vertikal-GVO enthalten vielmehr keinerlei Unterscheidungen nach Produktgruppen.


Vermittlungsplattformen

Im Hinblick auf Online-Vermittlungsplattformen (Handelsplattformen, Buchungsportale etc.) enthalten die Leitlinien zur neuen GVO eine Klarstellung, dass sie nicht als Handels­vertre­ter, sondern als Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten auftreten und damit den kartellrechtlichen Grenzen für den vertikalen Vertrieb nach der neuen Vertikal-GVO unterliegen. Die Einordnung begründet die Kommission damit, dass Online-Vermittlungsplattformen in aller Regel als unabhängige Marktteilnehmer auftreten und gerade nicht dem Lager des jeweiligen Unternehmers zugeordnet werden können. Außerdem bedienen Online-Vermittlungsplattformen häufig eine große Zahl konkurrierender Anbieter.
 

Von aktivem Verkauf bis Wettbewerbsverbot

Umfangreiche Konkretisierungen sieht die Entwurfsfassung der GVO beim aktiven und passiven Verkauf vor. Daran anknüpfend enthalten die Leilinien auch eine Klarstellung dahin­ge­hend, dass das Anbieten unterschied­licher Sprachoptionen auf einer Webseite, die sich von der im zugewiesenen Gebiet üblichen Sprache unter­scheidet, eine Form des aktiven Verkaufs darstellt (mit Ausnahme der in der EU weitverbreiteten englischen Sprachfassung). Abnehmer, denen der aktive Vertrieb in andere Gebiete untersagt ist, müssen die Einschrän­kung folglich künftig auch bei der Gestaltung ihres Internetauftritts beachten.

Die neue GVO sieht nun außerdem explizit die Möglichkeit vor, Beschränkungen des aktiven Verkaufs in andere exklusiv vergebene Gebiete (bzw. Beschränkungen des aktiven und passiven Verkaufs in Gebiete, in denen der Anbieter ein selektives Vertriebssystem betreibt) in die nächste Handelsstufe durchzureichen. Nach der bis­herigen Fassung war es für Anbieter äußerst ärgerlich, nicht ihre Abnehmer effektiv zur Einhaltung der zuge­wiesenen Vertriebsgebiete zu verpflichten, da die Anbieter nur ihre unmittelbaren Vertragspartner dazu ver­pflichten konnten. Auf dem Wege wird den Alleinvertriebspartnern weiterer Investitionsschutz zuteil.

 
Zusätz­lich stellt die Entwurfsfassung klar, dass die auch als weite Bestpreisklauseln bekannten weiten Paritätsklauseln nicht freistellungsfähig sind. Damit ist es Online-Vermittlungsdiensten untersagt, Vertrags­partnern zu verbieten, ihre Waren oder Dienstleitungen auf anderen Online-Vermittlungsdiensten günstiger anzubieten. Im Übrigen stellt die Vertikal-GVO Meistbegünstigungsklauseln wie schon bisher frei.

 
Eine weitere für die Praxis äußerst relevante Änderung betrifft schließlich die Laufzeit von Wettbewerbs­verboten. Während die bisherige GVO Wettbewerbsverboten, die sich nach Ablauf von fünf Jahren automa­tischen ver­län­ger­ten, die Freistellungsfähigkeit gänzlich entzog, wurde das in der neuen Entwurfsfassung aufgeweicht. Derartige für die Praxis sehr komfortable Verlängerungsklauseln sind danach künftig freistellungsfähig, sofern es dem Abnehmer ermöglicht wird, die Vereinbarung mit einer angemessenen Frist neu zu verhandeln oder zu kündigen. Gerade für aufwendig verhandelte Vertriebsbeziehungen dürfte die Beseitigung der Sollbruchstelle eine sehr willkommene Änderung darstellen.


Fazit

Auch in ihrer modernisierten Form wird die Vertikal-GVO nach dem 31. Mai 2022 den grundlegenden gesetzlichen Rahmen für die Gestaltung der großen Mehrzahl von Einkaufs- und Verkaufsbeziehungen in der EU bilden. Die Bedeutung darf keinesfalls unterschätzt werden, schon weil Verstöße gegen kartellrechtliche Verbote schwerwiegende Folgen bis hin zur vollständigen Unwirksamkeit von Verträgen und ganzer Vertriebssysteme haben sowie zu empfindlichen kartellrechtlichen Bußgeldern führen können.

Wie so oft, bestehen noch zahlreiche Unsicherheiten für die Anwender. Klar ist aber bereits jetzt, dass eine Vielzahl künftiger, aber auch bestehender Vertriebsverträge in der ein oder anderen Weise von den zu erwartenden Änderungen betroffen sein werden.

Es empfiehlt sich daher unbedingt, die neuen Leitplanken bereits jetzt bei der Neugestaltung von dauerhaften Vertriebsbeziehungen zu berücksichtigen, aber auch bestehende Verträge auf möglichen Anpassungsbedarf hin zu überprüfen.

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