Neufassung der EU-Gruppenfreistellungsverordnung – Ende des Übergangszeitraums am 31. Mai 2023

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veröffentlicht am 22. Februar 2023 | Lesedauer ca. 5 Minuten

Autoren: Tim Spielmann und Roman Kindl


Den Entwurf der Verordnung (EU) 2022/720 (Vertikal-GVO nF) haben wir Ihnen bereits hier vorgestellt. Dieser Entwurf ist (mit einigen Änderungen) am 1. Juni 2022 in finaler Fassung in Kraft getreten. Für Vereinbarungen, die noch nach der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 (Vertikal-GVO aF) freigestellt und am 31. Mai 2022 in Kraft waren, läuft die Übergangsfrist gemäß Art. 10 Vertikal-GVO nF am 31. Mai 2023 ab. Danach sind Ver­ein­ba­run­gen einheitlich nach der Vertikal-GVO nF zu beurteilen. Noch ist genug Zeit, bestehende Vereinbarungen auf Änderungsbedarf hin zu überprüfen und in Einklang mit der finalen Fassung zu bringen. Anpassungsbedarf kann dabei sowohl aus recht­li­chen als auch aus tatsächlichen Gründen erwachsen.



Handlungsbedarf aus rechtlichen Gründen

Die Vertikal-GVO ist als System von Ausnahmen und Gegenausnahmen zur Freistellung vertikaler Vereinba­rungen gemäß Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO nF ausgestaltet. Naturgemäß betreffen diese Ausnahmen solche Be­schränkungen, die wegen des damit verbundenen hohen wirtschaftlichen Vorteils für die beteiligten Un­ter­neh­men von besonderem Interesse sind. Wer auf der Suche danach ist, was „erlaubt“ ist, muss die Ge­gen­aus­nah­men besonders in den Blick nehmen. Sind diese einschlägig, gilt die Befreiung grundsätzlich für alle Aspekte der jeweiligen Vereinbarung einschließlich des für ihre Durchführung erforderlichen Informationsaustausches.

Besonders sensibel sind Vereinbarungen unter Wettbewerbern, Art. 2 Abs. 4 – 6 Vertikal-GVO, an deren Be­frei­ung vom Kartellverbot zusätzliche Voraussetzungen geknüpft sind. Diese Konstellation tritt etwa beim sog. dualen oder auch zweigleisigen Vertrieb auf (dazu unten mehr). Gemeint ist damit beispielsweise, wenn ein Hersteller neben Händlern auch selbst unmittelbar Endkunden beliefert.

Verboten bleibt die verbindliche Festsetzung von (Mindest)Preisen, Art. 4 lit. a Vertikal-GVO nF. Unternehmen, die Preise festsetzen möchten, müssen auf Handelsvertreter-Verträge zurückgreifen – mit allen damit ver­bun­de­nen Vor- und Nachteilen.

Ansonsten lassen sich fünf Konstellationen ausmachen, welche die Vertikal-GVO nF nun detaillierter regelt als bisher:

  • Alleinvertriebssysteme (Art. 4 lit. b Vertikal-GVO nF)
  • selektive Vertriebssysteme (Art. 4 lit. c Vertikal-GVO)
  • sonstige Vertriebssysteme (Art. 4 lit. d Vertikal-GVO nF)
  • der Online-Vertrieb (Art. 4 lit. e Vertikal-GVO nF)
  • der sog. Aftermarket (Art. 4 lit. f Vertikal-GVO nF)


Die Regelungen zum Online-Vertrieb werden an anderer Stelle vertieft.


Allein-, selektive und sonstige Vertriebssysteme

Erstmals nimmt die Vertikal-GVO nF in Art. 1 Abs. 1 lit. h eine Begriffsbestimmung für Alleinvertriebssysteme vor, ebenso wie für das Begriffspaar aktiver (Art. 1 Abs. 1 lit. l Vertikal-GVO nF) und passiver Verkauf (Art. 1 Abs. 1 lit. m Vertikal-GVO nF), obwohl die Vertikal-GVO aF dieses Begriffspaar bereits voraussetzte.

Ein Alleinvertriebssystem ist dann gegeben, wenn ein Anbieter den Vertrieb für ein Gebiet oder eine Kun­den­grup­pe sich selbst oder nicht mehr als fünf Abnehmern ausschließlich zuweist. Etwa ein Hersteller, der sich vorbehält, für den DACH-Raum einen ausschließlichen Vertriebspartner zu bestimmen oder bestimmte Groß­kun­den allein zu bearbeiten. Es geht also um eine quantitative Beschränkung.

Selektive Vertriebssysteme sind dagegen auf eine qualitative Beschränkung ausgerichtet. Nur Händler, die (i) diskriminierungsfrei und (ii) anhand zuvor festgelegter Merkmale ausgewählt wurden, sollen zum Zuge kommen und Waren und Dienstleistungen wiederum nur an Händler abgeben, die innerhalb des selektiven Ver­triebs­sys­tems zugelassen sind. Lehrbuchmäßig wird oft auf das Beispiel eines Kosmetik-Herstellers zurückgegriffen, der einen Vertrieb seiner Produkte ausschließlich über Apotheken anstrebt. Bedient sich ein Anbieter nur einzelner Elemente dieser Allein- oder selektiven Vertriebssysteme, fällt dies nach der Vertikal-GVO nF unter die Fallgruppe der sonstigen Vertriebssysteme.


Kombinationsmöglichkeiten

Anbieter können Vertriebssysteme in gewissen Grenzen auch kombinieren. Hierzu enthalten Art. 4 lit. b Nr. i – v, lit. c Nr. i Nr. 1 – 5, lit. d Nr. i – v Vertikal-GVO nF aufeinander abgestimmte Regelungen: So kann die Durch­­set­zung des Alleinvertriebssystems für ein Gebiet oder eine Kundengruppe auch in Vereinbarungen aufgenommen werden, die selbst für ein anderes Gebiet ein selektives oder sonstiges Vertriebssystem vorsehen. Allerdings darf lediglich der aktive Verkauf unterbunden werden.

Die Durchsetzung selektiver Vertriebssysteme in Vereinbarungen, die selbst für ein anderes Gebiet oder eine andere Kundengruppe, ein Alleinvertriebssystem oder sonstiges Vertriebssystem vorsehen, geht demgegenüber deutlich weiter, da darin neben dem aktiven Verkauf auch der passive Verkauf unterbunden werden darf.
Gleich­­lau­­fend für alle Vertriebssysteme darf der Niederlassungsort des Abnehmers beschränkt werden. Ist der Abnehmer Großhändler, darf der Anbieter ihm den Vertrieb an Endverbraucher untersagen. Zuletzt besteht auch die Möglichkeit, den Weiterverkauf von Teilen zu beschränken.


Dualer Vertrieb

Anbieter kommen zunehmend nicht umhin, Waren unmittelbar abzugeben. So ist es Endverbrauchern etwa immer schwerer zu vermitteln, warum sie Waren eines Herstellers nicht auch unmittelbar von diesem beziehen können – gerade im Online-Vertrieb. Aber auch im stationären Handel haben etwa Flagship-Stores her­aus­ra­gen­de Bedeutung erlangt. Für die Anbieter geht es neben der Erfüllung von Markterwartungen um die Wei­ter­ent­wick­lung ihrer Marken, aber auch um die Erschließung zusätzlicher Margen. Gleichzeitig ist das Etablierte für dieselben Anbieter unverzichtbar, um ihre Marktdurchdringung in der Fläche und in der Breite aufrecht zu erhalten.

Konsequenz ist, dass Anbieter und Abnehmer, die sich traditionell auf verschiedenen Marktseiten gegenüber­gestanden haben, nun gleichzeitig Wettbewerber auf der einen Marktseite sind. Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht ein offenkundiges Spannungsverhältnis.

Dieses Spannungsverhältnis versuchen Art. 2 Abs. 4 – 6 Vertikal-GVO nF aufzulösen. Zum einen, indem nicht beide Wettbewerber gleichzeitig auf beiden Handelsstufen tätig sein dürfen, Art. 2 Abs. 4 S. 2 Vertikal-GVO nF. Zum anderen, indem der zulässige Informationsfluss zwischen Wettbewerbern beschränkt ist, Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO nF. Allerdings fällt diese Beschränkung des Informationsaustauschs deutlich weniger ein­schnei­dend aus, als dies noch in der Entwurfsfassung der Vertikal-GVO nF geplant war. Die Freistellung erfasst den Informationsaustausch erst dann nicht mehr, wenn dieser nicht direkt die Umsetzung der vertikalen Ver­ein­ba­rung betrifft oder nicht zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienst­leis­tun­gen erforderlich ist.


Handlungsbedarf aus tatsächlichen Gründen

Unabhängig von den Änderungen der Vertikal-GVO nF kann sich Handlungsbedarf aber immer auch aus tat­säch­li­chen Gründen ergeben, wenn eines oder mehrere an der bislang freigestellten Vereinbarung beteiligte Unternehmen gewachsen sind.

Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO nF beinhaltet nach wie vor eine Marktanteilschwelle von 30 Prozent, ab der die Frei­stel­lung durch die Vertikal-GVO generell nicht mehr in Anspruch genommen werden kann. Sofern Wa­ren­ein­zel­händ­ler beteiligt sind, beinhaltet Art. 2 Abs. 2 Vertikal-GVO nF eine Umsatzschwelle von 50 Mio. Euro. Diese hat auch im Angesicht der jüngsten Inflation keine Anpassung erfahren, da sie auf der Umsatzschwelle für Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) beruht (Leitlinien Fn. 60). Ein Schlupfloch besteht hier nur, wenn der Marktanteil 15 Prozent nicht übersteigt (Leitlinien Rz. 69).

Wachstum kann auch dazu führen, dass Unternehmen sich erstmals mit der Vertikal-GVO auseinandersetzen müssen. Nach Art. 101 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind nach europäischem Recht Vereinbarungen zwischen Unternehmen verboten, wenn sie geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinflussen. Das wird in der Regel nicht der Fall sein, wenn der gemeinsame Marktanteil der beteiligten Unternehmen 5 Prozent und der Jahresumsatz der umfassten Waren 40 Mio. Euro nicht überschreitet (Leitlinien Rz. 25). Entwachsen dem ein oder mehrere Unternehmen, müssen sich ihre ver­ti­ka­len Vereinbarungen an der Vertikal-GVO nF messen lassen. Im Übrigen ist die die Vertikal-GVO nF aber auch für Unternehmen relevant, die nicht unmittelbar dem Anwendungsbereich der Vertikal-GVO unterfallen – denn ihre Befreiungen wirken auch in Ansehung des nationalen Kartellverbots, § 2 Abs. 2 Gesetz gegen Wett­be­werbs­be­schrän­kun­gen (GWB). Damit finden die Freistellungstatbestände der Vertikal-GVO nF auch auf rein deutsche Sachverhalte ohne einen grenzüberschreitenden Bezug Anwendung. Eine gute und kontinuierliche Marktbeobachtung, insbesondere hinsichtlich des eigenen Marktanteils, ist demnach unumgänglich, um das kartellrechtliche Pflichtenfeld abstecken zu können.


Fazit

Vor dem Hintergrund, dass die Vertikal-GVO nF in zahlreichen Bereichen größeren Gestaltungsfreiraum ein­räumt, bietet sich gerade beim Neuabschluss oder turnusmäßigen Anpassungen eines Vertriebsvertrages eine Überprüfung anhand der neuen Vorgaben an. Das gilt umso mehr, sollten sich Unternehmen entscheiden, neue Vertriebswege einzuschlagen. Bestehende Vereinbarungen sollten dagegen nicht vorschnell geändert oder gar gekündigt werden. Gleichwohl ist auch hier eine regelmäßige Prüfung, insb. im Blick auf die Entwicklung der Marktanteile, empfehlenswert.

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