Arbeitszeiterfassung wird für alle Unternehmen in Deutschland verpflichtend – So sieht die Umsetzung aus

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zuletzt aktualisiert am 7. Dezember 2022 | Lesedauer ca. 6 Minuten


Der Europäische Gerichtshof hatte schon im Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, wonach die Unternehmen durch ein objektives, zugängliches und verlässliches System die geleistete tägliche Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer messen müssen. Das ergebe sich aus der Arbeitszeitrichtlinie. Damit wurde der deutsche Gesetzgeber bereits im Jahre 2019 zum tätig werden aufgefordert. Bisher wurde jedoch keine gesetzliche Regelung geschaffen. 



Bislang waren Unternehmen aufgrund des § 16 Abs. 2 ArbZG lediglich dazu verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit von Arbeitnehmern aufzuzeichnen.Bislang sind Unternehmen nur teilweise zur Zeiterfassung verpflichtet. Am bekanntesten dürfte die Vorschrift des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG sein, wonach eine Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeiten bei Überschreiten der täglichen Höchstarbeitszeit nach § 3 S. 1 ArbZG und im Falle von Sonntags- und Feiertagsarbeit besteht. Darüber hinaus bestand für Unternehmen nur in einigen Branchen (z.B. in der Fleischindustrie) und gesetzlich geregelten Sonderfällen (Arbeitnehmerüberlassung, grenzüberschreitende Entsendung) die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung. Eine bestimmte Form der Zeiterfassung gibt es mit Ausnahme von § 6 Abs. 1 Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (nachfolgend: „GSA-Fleisch“) nicht.

 

Mit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (nachfolgend: „BAG") vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 – wurde der deutsche Gesetzgeber überholt (Mehr dazu: Bundesarbeitsgericht: Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht). In einem Fall, in dem es um die Frage ging, ob ein Betriebsrat von einem Arbeitgeber verlangen kann, dass er eine elektronische Arbeitszeiterfassung einrichtet, entschied das BAG nun, dass eine Arbeitszeiterfassung für alle Unternehmen in Deutschland verpflichtend sei.

 

Damals beruhigte sich die Praxis damit, dass die Entscheidungsgründe des Beschlusses noch nicht abgefasst und veröffentlicht waren und deshalb noch nicht feststehe, ob und wenn ja, in welchem Umfang Vorgaben zur konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung festgelegt wurden. Nun liegen die Gründe des BAG vor und das Gericht erteilte darin dem deutschen Gesetzgeber eine deutliche Schelte. Der Gesetzgeber wäre verpflichtet gewesen, die Entscheidung des Europäische Gerichtshof vom Mai 2019 umzusetzen und für die Arbeitszeiterfassung eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Das sei nicht erfolgt. Dennoch seien deutsche Unternehmen bereits jetzt und ab sofort dazu verpflichtet, die Dauer der täglichen Arbeitszeit zu erfassen. Das gilt für alle Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe und ob bei ihnen ein Betriebsrat besteht oder nicht.

 

Nach dieser Entscheidung stellt sich nun die Frage: Was bedeutet das für Unternehmen in Deutschland und wie werden die Vorgaben der Rechtsprechung umgesetzt?

 

Grundaussagen des BAG

Arbeitgeber sind nach unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (nachfolgend: „ArbSchG") verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst und aufgezeichnet werden kann. Das Arbeitszeiterfassungssystem dient dazu, die Einhaltung der arbeitsschutzrechtlichen Vorgaben überprüfen zu können. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bezieht sich auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i. S. d. § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Ausnahmen für bestimmte Tätigkeiten, von denen der deutsche Gesetzgeber auf Grundlage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG Gebrauch machen könnte, sind (aktuell) nicht gegeben. Ausnahmeregelungen sind derzeit also nur für Organe und leitende Angestellte möglich.

 

Die Pflicht zur Einführung beschränkt sich nicht nur darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt. Der Arbeitgeber muss davon auch Gebrauch machen und die Arbeitszeit seiner Mitarbeiter tatsächlich erfassen. Zudem muss die Arbeitszeit nicht nur erhoben, sondern auch aufgezeichnet werden. Die Pflicht zur Zeiterfassung gilt ab sofort, es gibt keine Übergangsfrist!

 

Welche Arbeitszeiten sind zu erfassen?

Zu erfassen ist die tägliche Dauer der Arbeitszeit, bestehend aus Beginn, Ende und etwaiger Überstunden. Was genau unter Arbeitszeit zu verstehen ist, bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls anhand der Tätigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers. Die Arbeitszeit beginnt dann, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit fremdbestimmt für den Arbeitgeber aufnimmt.

 

Zudem fordert das Gericht, dass auch Überstunden zu erfassen sind. Von Überstunden spricht man, wenn die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit überschritten wird, die durch Kollektivvertrag oder Arbeitsvertrag festgelegt ist. Das Bundesarbeitsgericht verwendet also nicht den Begriff der „Mehrarbeit", unter der die Arbeitszeit verstanden wird, die über die Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz (nachfolgend: „ArbZG") hinausgeht, § 16 Abs. 2 ArbZG. Mit dem Begriff Überstunden sind auch Überschreitungen der täglich geschuldeten Arbeitszeit erfasst. Damit wären nicht nur Überschreitung der werktäglichen Höchstarbeitszeit von acht Stunden aufzuzeichnen, sondern jegliche Überschreitung der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit. Bei einem halbtagsbeschäftigen Mitarbeiter, der vertraglich festgelegt täglich fünf Stunden arbeitet, wäre damit jede Überschreitung dieser fünf Stunden aufzeichnungspflichtig. Bisher war die prozessuale Durchsetzung von Überstundenansprüchen durch von der Rechtsprechung aufgestellte hohen Hürden für den Arbeitnehmer oftmals schwer durchsetzbar (Mehr dazu: Aufatmen bei den Arbeitgebern – Arbeitnehmer müssen Überstunden und die arbeitgeberseitige Veranlassung nachweisen). Das könnte sich durch die Überstundendokumentationspflicht nun ändern.

 

Wie ist die Arbeitszeit zu erfassen?

Wie genau die Zeit erfasst werden muss, ob schriftlich, per Stechuhr oder mithilfe eines elektronischen Computersystems, definiert das Gericht nicht. Es hat vielmehr ausdrücklich klargestellt, dass keine elektronische Zeiterfassung erforderlich ist. Der Arbeitgeber hat hier also einen Gestaltungsspielraum, wie er die Arbeitszeit erfasst. Dabei wurde durch das BAG aber auch klargestellt, dass sich der Arbeitgeber bei der Einführung nicht durch rein wirtschaftliche Überlegungen leiten lassen darf. Mit dem Argument, dass die Zeiterfassung zu teuer sei, kann sich ein Unternehmen also nicht um die Zeiterfassung drücken.

 

Der absoluten Pflicht zur Arbeitszeiterfassung steht demnach die absolute Freiheit der Art und Weise der Erfassung gegenüber. Da es jedoch nicht ausreicht, ein Arbeitszeiterfassungssystem nur zur freiwilligen Nutzung zur Verfügung zu stellen, muss der Arbeitgeber im Betrieb auch kontrollieren, ob die Mitarbeiter das gewählte System auch nutzen und sie ggf. zur Nutzung auffordern. Möchte der Arbeitgeber die Arbeitszeit analog mittels Stift und Papier erfassen, muss er dafür das Material zur Verfügung stellen und auch darauf achten, dass die Zeiterfassungszettel ausgefüllt werden. Gleiches gilt für ein elektronische Erfassungssystem.

 

Vor der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe stellte sich auch noch die Frage, ob die Erfassung der Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen werden kann. Das wird vom BAG bejaht. Auch wenn die Einrichtung und das Vorhalten eines Arbeitszeiterfassungssystems dem Arbeitgeber obliegt, ist nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren. Wie genau eine solche Delegation aussehen kann, bestimmt sich im Einzelfall anhand des gewählten Zeiterfassungsmodells.

     

Ist der Betriebsrat bei der Ausgestaltung der Arbeitszeit zu beteiligen?

Aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung der Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende der Arbeitszeiten erfasst und aufgezeichnet werden, hat der Betriebsrat wegen des Gesetzesvorbehalts kein Initiativrecht hinsichtlich der Einführung einer Arbeitszeiterfassung. Da das Bundesarbeitsgericht die Pflicht zur Zeiterfassung aus der arbeitsschutzrechtlichen Norm des § 3 ArbSchG herausliest, hat der Betriebsrat jedoch derzeit für die Ausgestaltung des im Betrieb zu verwendenden Systems zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ein Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Dieses Initiativrecht ist jedoch nicht auf eine Zeiterfassung in elektronischer Form beschränkbar. Mit „derzeit“ ist gemeint, dass sobald der Gesetzgeber die Arbeitszeiterfassung nun endlich gesetzlich regelt, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Umfang der gesetzlichen Regelung gesperrt ist. Ob ein Mitbestimmungsrecht verbleibt, hängt dann von der gesetzlichen Ausgestaltung und einem etwaigen Ausgestaltungsspielraum ab.

 

Was droht bei Verstößen?

Bei Verstößen drohen derzeit wohl noch keine unmittelbaren Geldbußen. Da die Pflicht aus § 3 ArbSchG resultiert und Verstöße hiergegen (noch) nicht nach § 25 ArbSchG Bußgeld bewehrt sind, fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Mittelbar besteht jedoch ein erhebliches Bußgeldrisiko. Denn die zuständige Arbeitsschutzbehörde kann nach § 22 Abs. 3 Ziff. 1 ArbSchG anordnen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber zu treffen hat, um die Pflichten aus diesem Gesetz, also auch die Pflicht nach § 3 ArbSchG zu erfüllen. Verstößt der Arbeitgeber gegen diese Anordnung, so kann gegen ihn gem. § 25 Abs. 1 Ziff. 2 a) i.V.m. Abs. 2 ArbSchG ein Bußgeld bis zu 30.000 Euro verhängt werden. Hinzu kommt, dass durch die Aufzeichnungspflicht Verstöße gegen das ArbZG dokumentiert und damit bewiesen werden, wodurch bei etwaigen Verstößen und deren Dokumentation mit einem erhöhten Bußgeldrisiko nach § 22 ArbZG zu rechnen ist.  

 

Fazit und Handlungsempfehlung

Wie schon vor der Veröffentlichung der Gründe gilt weiterhin, dass das Urteil des BAG in erster Linie dem Gesetzgeber Druck macht, einen gesetzlichen Rahmen für die Arbeitszeiterfassung zu schaffen. Durch das Urteil besteht nun insoweit Klarheit, dass Arbeitgeber die Arbeitszeiten ihrer Angestellten tatsächlich erfassen und aufzeichnen müssen. Die reine zur Verfügungstellung eines Zeiterfassungssystems ist nicht ausreichend. Auch die Rufe, die nach dem Beschluss schon den Tod der Vertrauensarbeitszeit heraufbeschworen haben, haben sich so nicht als richtig erwiesen. Vertrauensarbeitszeitmodelle sind weiterhin möglich, wenn darunter selbstbestimmtes Arbeiten mit freier, eigener Planung der Zeit verstanden wird und der Arbeitnehmer die Arbeitszeit selbst aufgezeichnet.

 

Insbesondere vor dem Hintergrund der sofortigen Umsetzungspflicht eines Arbeitszeiterfassungsystems und des hohen Bußgeldrisikos im Falle der nicht erfolgten Umsetzung sind Unternehmen dazu aufgerufen, bereits bestehende Arbeitszeiterfassungen unter Berücksichtigung der vom BAG entwickelten Leitsätze schnellstmöglich zu überprüfen. Besteht kein Arbeitserfassungssystem, muss in die Kommunikation mit der Belegschaft zum aktuellen Stand der geplanten Maßnahmen zur Arbeitszeiterfassung und weiterer Schritte eingestiegen werden. Arbeitgeber sollten sich daher mit der Frage beschäftigen, welche verschiedenen Zeiterfassungssysteme für das eigene Unternehmen sinnvoll umsetzbar und implementierbar sind. Immerhin bei der Umsetzung haben Unternehmen einen erheblichen Spielraum. Für Arbeitnehmer besteht durch die Aufzeichnungspflicht eine erhebliche Beweiserleichterung zum Nachweis von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz und durch die Pflicht zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems dürfte der Nachweis von erbrachten Überstunden durch die Arbeitnehmer gem. § 16 Abs. 2 ArbZG leichter fallen. 

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